Hier einige Ausschnitte aus Erzählungen, die demnächst in einem Band zusammengefasst werden sollen. Arbeitstitel: Formpressfleisch. Oder: Auf der Flucht erschossen.
Die Exhumierung der Magda Fietich
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Der Weg vom Grab zur Kapelle war bei Lichte besehen nicht allzu weit, im grauen Nebel dieses regnerischen Tages aber weit genug, um vom Grab aus die Kapelle schon nicht mehr erkennen zu können. Ihre Konturen schälten sich erst nach zwanzig, dreißig Metern aus dem herbstlichen Trübsal heraus, wofür die kleine Prozession eine beachtliche Zeit benötigte. An der Kapelle angelangt, öffneten die Gehilfen das Portal, anschließend verschwand der kleine Leichenzug im Inneren des gotischen Häuschens, und nur das leichte Plätschern des Regens durchbrach die Stille.
Die Friedhofskapelle war ein kleines Gebäude mit einem spitz zulaufenden Türmchen, dessen zerbrechlich-filigrane Konstruktion aufgrund einer hochgradig geschickten Statik gleich zwei tonnenschwere Glocken zu tragen vermochte. Trotz seiner kleinen Abmessungen wurde nicht auf die Andeutung eines Strebewerks verzichtet, das die wenigen Glasfenster weitgehend verdeckte und dem kleinen Gebäude mit seinen Fialen und Wasserspeiern ein beinahe verspieltes, ja geradezu märchenhaftes Erscheinungsbild verlieh.
Die Kapelle war sehr alt, errichtet wurde sie weit bevor man sich dazu entschlossen hatte, einen funktionstüchtigen Friedhof um sie herum anzulegen. In der grauen Vorzeit nämlich hatte man die Toten in einem entfernten Wäldchen bestattet, häufig nur in notdürftig ausgehobenen Gräbern verscharrt, so dass ihre fahlen, teils von Fäulnis zerschlissenen Gesichter vor allem nach starken Regengüssen im Matsch und unter Pfützen viel zu oft zum Vorschein gekommen waren. Häufig wurden Kinder von den Toten in ihren Bann gezogen, denn viele waren die Nachkommen der Verscharrten, deren Seelen noch nicht bereit für den Übergang in die ewige Ruhe waren und begierig danach strebten, das ein oder andere Unerledigte noch zu Ende zu bringen oder einfach nur, um in ätherischen Kontakt mit den lebenden Nachfahren zu treten.
Der Nachlässigkeit des Bestattungswesens war es also zu verdanken, dass die Toten den dörflichen Frieden zu stören begannen, indem sie in die Welt der Lebenden ein- und zu ihren Seelen durchzudringen versuchten. Nachdem viele Kinder unter Alpträumen und unsichtbaren Stimmen gelitten, immer mehr Leute über unerklärliche Erscheinungen geklagt hatten, nachdem zusätzlich besonders viele Fälle seltsam degenerativer Krankheiten und auch immer mehr hässlich missgebildete Fehlgeburten aufgetreten waren, wurde beschlossen, einen Friedhof mit tiefen und geweihten Gräbern rund um die kleine Kapelle anzulegen, der die Voraussetzungen bot, die Ruhe der Toten für immer und auf ewig zu gewährleisten. Dies war auch die Zeit, in der der Beruf des Totengräbers entstanden war, der durch sein Handwerk dafür zu sorgen hatte, die Totenruhe, die Himmelfahrt der Seelen und damit den Frieden im Dorf zu gewährleisten.
Nach dem Anlegen des Friedhofs wurde die Kapelle zur Totenkapelle geweiht. Fortan stand sie also, umgewidmet zu einer düsteren, unheilvollen und traurigen Aufgabe, auf ewig inmitten eines immer größer werdenden Feldes voller tiefer Gräber und kalter Gruften. Hatte die Kapelle zuvor noch heiteren, erbaulichen Zwecken wie etwa fröhlichen Eucharistiefeiern, hoffnungsvollen Gebeten oder sogar Trauungen gedient, war sie von da an eine Behausung für Tote auf ihrem letzen Weg ins Grab. Nur noch Trauer und Hoffnungslosigkeit gingen in den folgenden Jahrhunderten in ihr ein und aus, kein fröhliches Lachen mehr erhellte ihr Gemäuer und nichts Frohes konnte den Steinen die Zuversicht geben, ihre unheilvolle Bestimmung jemals wieder ablegen zu dürfen. Auf ihren Boden ergossen sich nur noch die Tränen der Trauernden und anstelle von süßlichem Weihrauch füllten ihren kleinen Chor nur noch die fauligen Ausdünstungen der Toten. Und so begann die Kapelle, sich zu verändern. Erst legte sich ein rußiger Schleier über die kleinen bunten Fenster, die sich alsbald immer weiter in ein dunkles Grau färbten. Zeitgleich breiteten sich dunkle Flecken auf den Steinen des Gemäuers aus, die sich immer weiter ausbreiteten, anwuchsen und anschwollen, bis sie keinen Strahl Licht mehr reflektieren konnten. Und wer er es trotz tiefer Trauer wagte, sein kummervoll gesenktes Haupt aufzurichten und nach oben zu blicken, konnte feststellen, wie sich die vormals runden Streben des Gewölbes zu einem knöchrigen Geäst verdichteten. Kaum ein Licht hatte mehr die Chance zu leuchten und kein Ton konnte mehr einen anderen Klang formen, als das heisere Wehklagen sterbenden Lebens. Auch über die beiden Glocken im Türchen legte sich ein wachsartiger Belag, der anstelle eines erhabenen Geläuts nur noch ein dumpfes, tonloses Klopfen erklingen ließ. Die Kapelle hatte sich in einen Tempel des Todes verwandelt.
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Der Totengräber zuckte zusammen. Fast war ihm, als sei er eingeschlafen oder weggetreten, eine kleine Weile ohnmächtig geworden und dann schlagartig wieder aufgewacht. Der Friedhof, so wusste er, hat seine eigenen Anforderungen an die Sinne der Lebenden. Die stille Prozession, der er aus einigen Metern Abstand zugesehen hatte, war verschwunden. Aufmerksam hatte er sie beobachtet, jeden Schritt, jede Bewegung des Totenhebers in einem beachtlich gedehnten Zeiterleben genauestens registriert, bis mit einem Male das Nichts in sein Bewusstsein gedrungen war und alles Erleben, Empfinden und Denken verlosch. Zumindest für einen kurzen Moment, denn mit einem Male ertönte der Schrei der Gesichtslosen – diesen Namen hatte ein früherer Totenheber den tonnenschweren Glocken eines Tages gegeben – über den Friedhof und bis weit hinein in das abgelegene Dorf. Dumpfe Schläge toten Metalls, die nach dem Anschlagen sofort wieder abklangen, jedoch nicht verklangen, sich tief in den Ohren verfingen, dort umherirrten, aneinanderstießen, nicht mehr hinausfanden und sich mit jedem weiteren Schlag zu einem brausenden Tosen aufsummierten, das schnell die Grenze jeglicher Erträglichkeit erreichte. Der Totengräber drückte seine Hände fest auf die Ohren, doch der klagende Lärm aus dem Türmchen grub sich durch ihre Haut und Knochen hindurch bis tief hinein in die Mitte seines Kopfes. Er schloss seine Augen und gab sich still dem Beben hin, das ihn bis hinab zu den Füßen zu durchfahren begann. Dabei nahm er die Hände von den Ohren und faltete sie vor seiner Brust, denn er wusste, die Glocken kündeten vom Ende der Totenruhe. Vom Ende der Totenruhe der Magda Fietich. Höchste Zeit also für einen Blick hinein in die Kapelle!
Die eigentliche Arbeit des Totenhebers unterlag einem strengsten Verborgenheitsgebot. Zum Kern der Arbeit zählten nicht etwa das Öffnen des Grabes oder die Herausnahme eines Leichnams. Nein, das alles galt, obschon in handwerklicher Hinsicht anspruchsvoll genug, als profanes Vorbereitungswerk, das lästiger Weise getan werden musste, bevor sich der Totenheber der eigentlichen Leichenfürsorge hingab, was in der verschlossenen Kapelle nur unter ausschließlicher Anwesenheit der gesalbten und mit einem Gelübde versehenen Beihilfen geschehen durfte. Normalen Sterblichen, und auch der Totengräber zählte gerade noch dazu, war der Blick auf die heiligen Verrichtungen verwehrt. Doch der Totengräber wusste sich zu helfen. Die Kapelle besaß eine kleine Sakristei, die wie eine architektonische Exklave, wie ein nicht dazugehöriger, beinahe schon kranhafter Auswuchs des Ziegelgemäuers, seitlich an das hintere Ende der Kapelle angeflanscht war. Die Sakristei besaß nicht nur eine Tür zum Altarbereich der Kapelle, sondern auch eine Außentür, deren grobes Schloss der Totengräber in weiser Voraussicht am Abend davor bereits mit einem Diedrich geöffnet hatte, so dass er nun leise und unbemerkt in das Garwehaus schlüpfen und von dort aus, durch kleine Spalten und Löcher in der Tür zum Altarraum, das Tun des Totenhebers und seiner Gehilfen beobachten konnte.
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Blindfisch an der Leine
Kai und Mario sind die Art von Kindern, die keiner mag. Zumindest aus Reihen der Erwachsenen nicht, und hier wiederum vornehmlich jener, die beruflich oder privat mit den beiden zu tun haben müssen. Unter ihresgleichen, im Kreise der Klassenkameraden oder Spielkameraden, auf neudeutsch auch Peergroup angliziert, erfreuen sie sich zumindest partieller Beliebtheit, die im wesentlichen auf dem Unterhaltungswert ihrer zahlreichen Streiche (neudeutsch: Pranks), Verhaltensauffälligkeiten und Renitenzen beruht. Kai und Mario sind grottenschlechte Schüler, interessieren sich nicht die Bohne für den Unterrichtsstoff, nicht einmal für interessante Sachinformationen außerhalb schulischer Lerninhalte, sondern gieren förmlich immerzu nach permanenter Bedürfnisbefriedigung im Ad-hoc-Modus, sofortiger, unmittelbarer Triebabfuhr und billigster, niveaulosester Zerstreuung. Je dümmer und einfältiger ein Inhalt, desto besser.
Einen nicht unerheblichen Teil ihrer bisher noch vergleichsweise überschaubaren Lebenszeit konnten sie in Form intensiven Daddelns bereits erfolgreich hinter sich bringen, also dem geistlosen Herumgerüttele an den Joysticks ihrer Spielkonsolen, gepaart mit hektischen Blicken durch die glasigen Pupillen ihrer ausdruckslosen Glupschaugen. Für ihr junges Alter konnten Kai und Mario also schon beachtliche Fortschritte in Sachen Selbstverblödung verzeichnen, was allerdings voraussetzen würde, dass zuvor genügend kognitive Substanz vorhanden gewesen wäre, die man verblödender Weise hätte abbauen können. Da das nicht der Fall ist, trifft es der Begriff Verblödung nicht ganz, da es sich hier eher um die gezielte oder fahrlässige Beibehaltung infantilerer Denkmodi handelt. Kurz nach ihrer Geburt müssen die beiden also intuitiv begriffen haben, dass es problemlos möglich ist, anstrengende Entwicklungsaufgaben einfach zu umschiffen und trotzdem mit jeder Menge Spaß durchs Leben zu stolpern.
Aus diesem Grunde ist vor allem die Schule so ein Problem. Sie ist ein ambivalenter Hassort, weil man dort zwar zur Erledigung stinklangweiliger Aufgaben, zum Stillsitzen und Leisesein angehalten wird, sich dort aber auch jede Menge Kinder aus der Nachbarschaft versammeln und ein prima Publikum für genüßlich zelebrierte Regelverstöße abgeben. Oft überwiegt jedoch der Hass auf die Schule. Weil es eine Schulpflicht gibt, werden sie von ihren nicht minder minderbegabten Eltern täglich aus den Betten gezerrt und in den Unterricht gejagt. Denn um vor Polizei und Jugendamt, vor Bußgeldern oder Sperrungen der Stütze Angst zu haben, reicht ihr noch verbliebener Bodensatz an kognitiven Reflexen gerade noch so aus.
Die Schwächen des Bildungssystems zeigen sich im Falle von Kai und Mario darin, dass es schlichtweg keinen Unterschied macht, ob sie die Schule besuchen oder nicht. Es wurstegal, ob sie zu Hause chillen, sich also vom Ausruhen ausruhen, oder sich im Klassenraum auf dem Boden herumwälzen und dabei grunzen. Dort, nämlich unter ihren Tischen, verbringen sie die meiste Zeit jener Art von Zeitvertreib, den das Lehrpersonal in Anlehnung an eine alte Tradition Unterricht zu nennen pflegt. Dort spielen sie mit herumliegendem Dreck, popeln in ihren Nasen oder fummeln sich laut stöhnend am Schritt herum, was oft Heiterkeit unter den Mitschülern hervorruft. Mit einem öden Stift Zahlen oder gar Buchstaben auf Papier zu malen, damit haben sie es nicht so. Es ist nicht so ihr Ding. Das ist ihnen nicht nur zu langweilig, es strengt sie auch höllisch an und grenzt an Körperverletzung. Nicht auszudenken, wieviel man Nachdenken muss, um ein ganzes Wort zusammen zu kriegen. All diese ganzen Buchstaben, in ihren Augen völlig willkürliche Kombinationen von Strichen, Kringeln und Pünktchen, über deren Bedeutung für das Leben in der Welt sie maximal eine nebulöse Vermutung haben, die irgendetwas mit runzligen Opas in ledernen Fauteuils zu tun hat.
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Auf der Flucht erschossen
Darum seid ihr auch bereit; denn der Menschensohn wird kommen zu einer Stunde, da ihr’s nicht ahnt (Mt 24:44).
Eine kleine Lichtung in einem Buchenhain. Ein Wäldchen, weit weg von den Siedlungen der Menschen und vom Lärm ihres grassierenden Lebens. Auf dem Boden heruntergefallenes Laub und Steine, kleine Pflanzen und Pilze, dazwischen abgebrochene Äste, Reisig, ebenso das unvermeidliche Insektengetier. Die Frühlingssonne lugte durch das frische Grün in den Bäumen, ein Schleier von Frühling durchwehte dieses idyllische Fleckchen Natur, das nach den langen Qualen und Entbehrungen eines nicht enden wollenden Winters endlich wieder Hoffnung und Zuversicht erleben durfte. Einige Vögel übten sich oben in den Bäumen im Reviergesang, bereiteten sich vor auf die auszehrenden Wochen des Nestbaus und nahmen keine Notiz von der Gestalt, die unten an einen Baum angelehnt saß und versonnen ins Gebüsch starrte. Sie war nur mit einem Lendenschurz bekleidet, ihre ansonsten nackte Haut war von goldbrauner Farbe und an mehrere Stellen mit getrocknetem Schmutz bedeckt, von ihrem Kopf standen verfilzte Haarlocken mehrere Handbreit ab und ihre Mundpartie war von einem dichten Bart umhüllt. Die Gestalt war der Messias. Der Heiland. Der Menschensohn.
Seit mehreren Stunden schon hatte der Messias an den Baum gelehnt auf dem Boden gesessen und dabei stumpfsinnig sich hin gestiert und nachgedacht. An das, was zuvor geschehen war, konnte er sich nur noch vage erinnern, und auch von dem, was er als nächstes tun solle, hatte er nur eine sehr grobe Vorstellung. Die Jahrtausende, die er seit seiner letzten Hinrichtung und Auferstehung im Himmel hatte verbringen müssen, waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Viel war nicht zu erledigen gewesen, so dass er sich sogar als göttliches Wesen einen Begriff jenes Zustands machen konnte, den Menschen gemeinhin als Langeweile zu bezeichnen pflegen. Doch trotz seiner spürbaren Unterbeschäftigung war die Zeit in einer rauschhaften Weise an ihm vorübergeeilt, denn im Himmel gingen die Uhren nicht nur anders und vor allem schneller, sondern besaßen aufgrund der unmöglichen Skalierbarkeit des Ewigen auch keine Zeiger. Dass die Zeit für die Parusie nun gekommen war, hatte sich lediglich durch eine Anomalie im Organisationsgefüge der himmlischen Instanzen ergeben; ein dummer Zufall also, den auch die klügsten Evangelisten nicht treffgenau hatten vorhersagen können. Tatsächlich trug niemand die Verantwortung dafür, dass der Messias nun auf dem harten Boden der Erde im Reich der Menschen saß und davon selbst ein wenig überrascht war.
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