Literarisches

Buchprojekte

Die Exhumierung der Magda Fietich

Worum es geht:

Eine düsterer Friedhof, darauf zwei unheimliche Antagonisten: der Totengräber und der Totenheber. Es erfolgt die gespenstische Öffnung eines Grabes und die Exhumierung der Magda Fietich, von der noch vieles nicht gestorben ist. Dann die mystische Wandlung während eines außergewöhnlichen Rituals und ein in die Katastrophe führendes Resonanzsystem aus Schuld, Angst und dem rastlosen Bösen – denn mit Magda Fietich wird nicht nur ein Leichnam aus dem Grab gehoben, sondern mit ihm auch die konturlosen Dämonen aus dem Bodensatz eines langen Lebens. Die Exhumierung der Magda Fietich mag auf den ersten Blick als fantastische Fabel daherkommen, doch bei genauerem Hinsehen wird mit dem Grab nicht nur der Zugang zu einem verwesten Leichnam, sondern auch zum verschütteten Seeleben der Protagonisten eröffnet.

Die Erzählung gliedert sich in drei Abschnitte:

  1. Die Exhumierung der Magda Fietich: Haupthandlung, Ort + Zeit: Friedhof, früher
  2. Das Gespenst: kurzes Intermezzo, Ort + Zeit: Friedhof: ein paar Jahrzehnte später
  3. Magdas Martyrium : Anschlussgeschichte, Nexus zu heute, Ort + Zeit: Lübeck-Buntekuh, heute

Veröffentlichung:

Die komplette Erzählung erscheint demnächst (Ende Mai / Anfang Juni 2023 bei Books on Demand)

Textauszug:

(…)

Der Weg vom Grab zur Kapelle war bei Lichte besehen nicht allzu weit, im grauen Nebel dieses regnerischen Tages aber weit genug, um vom Grab aus die Kapelle schon beinahe nicht mehr erkennen zu können. Ihre Konturen schälten sich erst nach zwanzig, dreißig Metern aus dem herbstlichen Trübsal heraus, was für die Teilnehmer der kleine Prozession jedoch keine Rolle spielte, da ihre Aufmerksamkeit einzig und allein der Fracht auf der Rollbahre galt. Endlich an der Kapelle angelangt, öffneten die Gehilfen das Portal, anschließend verschwand die Prozession im Inneren des gotischen Häuschens, woraufhin sich die schwere Tür mit ihren kunstvoll gelegten Intarsien wie von alleine wieder schloss. Nur das leichte Plätschern des Regens durchbrach die einkehrende Stille.

Die Friedhofskapelle mochte auf viele Besucher sehr bedrohlich oder gar abweisend wirken, war jedoch ein recht kleines Gebäude mit einem spitz zulaufenden Türmchen, dessen zerbrechlich-filigrane Konstruktion aufgrund einer hochgradig geschickt ausgeführten Statik zwei tonnenschwere Glocken zugleich zu tragen vermochte. Trotz seiner kleinen Abmessungen wurde nicht auf die Andeutung eines Strebewerks verzichtet, das die wenigen Glasfenster weitgehend verdeckte und dem kleinen Gebäude mit seinen zahllosen Fialen, Wasserspeiern und sonstigen Verzierungen ein beinahe verspieltes, ja geradezu märchenhaftes Erscheinungsbild verlieh.


Die Kapelle war sehr alt, errichtet wurde sie weit bevor man sich dazu entschlossen hatte, einen funktionstüchtigen Friedhof um sie herum anzulegen. In der grauen Vorzeit nämlich hatte man die Toten in einem entfernten Wäldchen bestattet, häufig nur in notdürftig ausgehobenen Löchern oder Gruben verscharrt, so dass ihre fahlen, teils von Fäulnis zerschlissenen Gesichter vor allem nach starken Regengüssen im Matsch und unter Pfützen viel zu oft zum Vorschein gekommen waren. Häufig wurden spielende Kinder von den Toten in ihren Bann gezogen, denn viele waren die Nachkommen der Verscharrten, deren Seelen sich nicht immer bereit für den Übergang in die ewige Ruhe wähnten und begierig danach strebten, das ein oder andere Unerledigte noch zu irgendeiner Art von Abschluss zu bringen oder einfach nur, um ohne lebenden Körper in ätherischen Kontakt mit den lebenden Nachfahren zu treten.

Diesen selbst für die damaligen Verhältnisse überaus groben Unzulänglichkeiten des altertümlichen Bestattungswesens war es also zu verdanken, dass die Toten den dörflichen Frieden zu stören begannen, indem sie in die Welt der Lebenden eindrangen und zu ihren Seelen durchzudringen versuchten. Nachdem erst viele Kinder, dann auch Erwachsene und Alte unter Alpträumen und unsichtbaren Stimmen gelitten, immer mehr Leute über unerklärliche Erscheinungen geklagt und unsichtbare, eindringlich klagende Stimmen gehört hatten, nachdem dazu besonders viele Fälle unbekannter degenerativer Krankheiten sowie auch immer mehr hässlich missgebildete Fehl- und Halbgeburten zu beklagen gewesen waren, wurde nach ausgiebiger Beratschlagung im Kreise des örtlichen Klerus beschlossen, einen amtlichen Friedhof mit ausreichend tiefen und vor allem geweihten Gräbern rund um die kleine Kapelle anzulegen, der alle Voraussetzungen dafür bot, die Ruhe der Toten – und damit auch die der Lebenden – für immer und ewig zu gewährleisten. Dies war eine überaus wichtige Erfahrung, die man andernorts mit der ordnungsgemäßen Bestattung der Toten und dem daran gekoppelten Frieden der Lebenden gemacht hatte, und dies war auch die Zeit, in der der Beruf des Totengräbers entstanden war, der durch sein ausgefeiltes Handwerk dafür zu sorgen hatte, die Totenruhe, die Himmelfahrt ihrer Seelen und damit die Ruhe der Lebenden im Dorf zu gewährleisten.

Nach dem Anlegen des Friedhofs wurde die Kapelle zur immerwährenden Totenkapelle geweiht. Fortan stand sie also, auf ewig umgewidmet zu einer düsteren, unheilvollen und traurigen Aufgabe, für immer inmitten eines immer größer werdenden Feldes voller Gräber und Gruften. Hatte die Kapelle zuvor noch vielen heiteren, freudvollen Zeremonien wie Taufen, fröhlichen Eucharistiefeiern, hoffnungsvollen Gebeten oder sogar Trauungen gedient, war ihre Bestimmung von da an die einer Herberge für Tote auf ihrem letzen Weg in ihre Gräber. Nur noch Hader, Trauer, Schmerz und Hoffnungslosigkeit gingen in den folgenden Jahrhunderten in ihr ein und aus, kein fröhliches Lachen mehr erhellte ihr Gemäuer und nichts Frohes mehr konnte den Steinen die Zuversicht geben, ihre unheilvolle Bestimmung jemals wieder ablegen zu dürfen. Auf ihren Boden ergossen sich nur noch die Tränen Trauernder, und anstelle eines glockenhellen liturgischen Gesangs froher Botschaften füllten ihren kleinen Chor von da an nur noch die fauligen Ausdünstungen der Toten und das heisere Wehklagen der Hinterbliebenen aus. Und so begann die Kapelle, sich zu verändern. Erst legte sich ein rußiger Schleier über die kleinen bunten Fenster, die sich alsbald immer weiter in ein dunkles Grau färbten. Zeitgleich breiteten sich schwarze Flecken auf den Steinen des Gemäuers aus, die sich wie parasitäre Flechten immer weiter ausdehnten, anwuchsen und anschwollen, bis sie keinem Strahl Licht mehr das Reflektieren erlaubten und jeden Schall verschluckten. Und wer er es trotz tiefer Trauer einmal wagte, sein kummervoll gesenktes Haupt aufzurichten und nach oben zu blicken, konnte feststellen, wie sich die vormals bogenförmigen Streben des Gewölbes zu einem knöchrigen Geäst verdichtet hatten, das in jeder Sekunde unter der Last des Gewölbes wie aber auch unter der permanenten Last von Trauer und Schmerz zusammenzubrechen drohte. Kaum eine Lampe hatte mehr die Chance, geschweige denn die nötige Kraft zu leuchten und keine Tonquelle konnte mehr einen anderen Klang formen, als das heisere Lamento erstorbenen Lebens. Auch über die beiden großen Glocken im Türmchen legte sich im Laufe der durchtrauerten Jahrhunderte in vielen Schichten ein pechartiger Belag, der anstelle des vormals erhabenen Geläuts nur noch ein dumpfes, tonloses, aber dennoch ein jedes Mark erschütterndes Wehgebrüll erschallen ließ. Die Kapelle hatte sich damit in einen Tempel des Todes verwandelt. Eine düstere Transformation, die noch lange keine Ende finden konnte, denn jeder weitere Tote, der in ihrem Inneren aufgebahrt und beweint wurde, verlieh ihrer tragischen Verwandlung einen weiteren Anschub. Nur der Totenheber hatte eine vage Ahnung von dem unermesslichen Grauen, das tief im Schiff der kleinen Kapelle darin begriffen war, sich herauszubilden, eine konkrete Gestalt anzunehmen und sich mit Tatkraft auszurüsten, und das in gewisser Weise als Kehrseite dieser Form des Bestattungswesens eines nicht mehr allzu fernen Tages mit aller tödlichen Gewalt und Wucht auf die Bevölkerung des Dorfes zurückschlagen würde.

(…)

Kotpilot von Paul Peichel

Kotpilot ist der bedrückende und gleichzeitig erheiternde Roman des Autors Paul Peichel, der im April 2023 bei Books on Demand erschienen ist. Heftiger Stoff, verteilt auf 180 Seiten, für nur 9,49 € (E-Book für 5,99 €).

Worum es geht:

Drei Tage im Leben eines Menschen. Drei einsame Tage voller Angst, Depression, Ekstase und Suff. Ziellos stolpert ein Mann über die Trümmer seines Lebens, stets auf der Suche nach Sinn und der Chance auf eine lebenswerte Zukunft. Seine Mitmenschen ziehen ihn an und stoßen ihn ab. Und obwohl er sich schon meilenweit von ihnen entfernt hat, blitzt seine Sehnsucht nach Liebe und Dazugehörigkeit immer wieder auf. So bleiben ihm nur sein Körper und seine Triebe – als Zuflucht und Untergang. Drei Tage, in denen sich alles für ihn entscheiden wird.

Paul Peichel schildert in Kotpilot die Leiden eines Menschen, der von wilden Fantasien, Ängsten, Hoffnungslosigkeit und Suffgedanken umhergeschleudert wird. Er erzählt in teils drastischen Worten, wie sein Held den Kontakt zu den Menschen in der realen Welt schon lange verloren hat, wie er um sein mentales und körperliches Überleben kämpft und schließlich eine Entscheidung trifft. Die inneren Dialoge seines Helden offenbaren dabei erschütternde Gedanken und Visionen, die zum düsteren und geheimen Grundbestand eines jeden Menschen gehören.

Kotpilot ist nichts für schwache Gemüter. Kotpilot ist ein Höllentrip durch eine stille menschliche Tragödie, die sich hinter jedem einzelnen der unzähligen Fenster der Häuser einer Stadt abspielen kann. Denn: „Hinter jedem dieser Fenster lebt mit einem Menschen ein einmaliges Schicksal, eine ganz individuelle Art und Weise, mit der inneren und äußeren Realität zurecht zu kommen. Aber genauso findet man hinter diesen vielen Fenstern all die mannigfaltigen Formen des Leides, zu der die Menschheit zu leiden fähig ist. Mal ist das Leid laut, auffällig, gewaltvoll und kräftig. Mal ist es ganz leise, unauffällig und versteckt sich fast schüchtern in der nächsten dunklen Ecke.“ (aus dem Prolog).

Mehr Infos auf www.kotpilot.de

Formpressfleisch

Worum es geht:

Formpressfleisch ist ein Erzählungsband mit skurrilen und grotesken Kurzgeschichten.

Veröffentlichung:

Geplant für Sommer 2023.

Textauszüge:

Blindfisch an der Leine

Kai und Mario sind die Art von Kindern, die keiner mag. Zumindest aus Reihen der Erwachsenen nicht, und hier wiederum vornehmlich jener, die beruflich oder privat mit den beiden zu tun haben müssen. Unter ihresgleichen, hauptsächlich im Kreise ihrer Klassen- oder Spielkameraden, auf neudeutsch auch Peergroup angliziert, erfreuen sie sich zumindest partieller Beliebtheit, die im wesentlichen auf dem Unterhaltungswert ihrer zahlreichen Streiche (wieder neudeutsch: Pranks), Verhaltensabnormitäten und Renitenzen beruht. Kai und Mario sind  mindestens grottenschlechte Schüler, interessieren sich nicht die Bohne für den Unterrichtsstoff, nicht einmal für interessante Sachinformationen außerhalb schulischer Lerninhalte, sondern gieren förmlich immerzu nach permanenter Bedürfnisbefriedigung im Ad-hoc-Modus, sofortiger, unmittelbarer Triebabfuhr und billigster, niveaulosester Zerstreuung. Je dümmer, einfallsloser und unterkomplexer, desto besser.  

Einen nicht unerheblichen Teil ihrer bisher noch vergleichsweise überschaubaren Lebenszeit konnten sie in Form intensiven Daddelns bereits erfolgreich hinter sich bringen, also dem stumpfsinnigen Herumgerüttele an den Joysticks ihrer Spielkonsolen, gepaart mit hektischen Blicken durch die glasigen Pupillen ihrer ausdruckslosen Glupschaugen auf irgendeinen verranzten Monitor, auf dem sich der für sie relevanteste Teil des Weltgeschehens abspielt. Für ihr junges Alter konnten Kai und Mario also schon beachtliche Fortschritte in Sachen Selbstverblödung verzeichnen, was allerdings voraussetzen würde, dass zuvor genügend kognitive Substanz vorhanden gewesen wäre, die sich verblödender Weise hätte abbauen lassen. Da das nicht der Fall ist, trifft es der Begriff Verblödung nicht ganz, da es sich hier vielmehr um die gezielte oder fahrlässige, in jedem Fall aber als eine Art Ideal gefeierte Beibehaltung frühkindlicher Denkmodi in Kombination mit den dazugehörigen infantilen Triebstrukturen handelt. Kurz nach ihrer Geburt müssen die beiden also intuitiv gemerkt haben, dass es nicht nur recht einfach möglich ist, sondern sich auch durchaus lohnt, anstrengende Entwicklungsaufgaben achselzuckend zu umschiffen und trotzdem mit jeder Menge Spaß durchs Leben zu kommen.   

Aus diesem Grunde ist vor allem die Schule so ein Problem. Mehr noch, sie ist ein absoluter Hassort, ein No-Go im wahrsten Wortsinne, denn sie konfrontiert Kai und Mario mit so ziemlich dem Schlimmsten, das die ihnen bekannte Welt zu bieten hat, nämlich mit Anforderungen. Dingen also, die ihren Anspruch aus einem Bereich schöpfen, die sich im Hierarchiegefüge menschlicher Kulturentwicklung deutlich oberhalb der imbezilen Sphäre basaler Selbststimulation befinden und daher kategorisch abzulehnen sind. Doch weil es eben eine Schulpflicht gibt, werden sie von ihren nicht minder minderbegabten Eltern täglich aus den Betten gezerrt und ohne Frühstück in die Schule gejagt. Denn um vor Polizei und Jugendamt, vor Bußgeldern oder Sperrungen der Stütze Angst zu haben, reicht der noch verbliebene Bodensatz an kognitiven Reflexen von Mama und Papa gerade noch so aus.  

(…)

Auf der Flucht erschossen

Darum seid ihr auch bereit; denn der Menschensohn wird kommen zu einer Stunde, da ihr’s nicht ahnt (Mt 24:44).

Eine kleine Lichtung in einem Buchenhain. Ein Wäldchen, weit genug entfernt von den Siedlungen der Menschen und vom Lärm ihres grassierenden Lebens. Auf dem Boden heruntergefallenes Laub, moosbedeckte Steine, kleine Pflanzen und Pilze, dazwischen abgebrochene Äste, Reisig, Bucheckern, Eicheln, ebenso das unvermeidliche Insektengetier. Die Frühlingssonne lugte durch das frische Grün oben in den Baumwipfeln, ein Schleier von Frühling durchwehte dieses idyllische Fleckchen Natur, das nach den endlos langen Qualen und Entbehrungen eines nicht enden wollenden Winters endlich wieder Hoffnung und Zuversicht erleben durfte. Einige Vögel übten sich oben im Geäst der Bäume im Reviergesang, bereiteten sich vor auf die auszehrenden Wochen der Aufzucht einer neuen Generation und nahmen keine Notiz von der Gestalt, die unten an einen Baum angelehnt saß und versonnen ins Gebüsch blickte. Sie war nur mit einem leichten Lendenschurz bekleidet, ihre ansonsten nackte Haut war von goldbrauner Farbe und an mehreren Stellen mit angetrocknetem Schmutz bedeckt, von ihrem Kopf standen verfilzte Haarlocken mehrere Handbreit ab, Mund und Kinn waren von einem dichten Bart umwuchert. Die Gestalt war der Messias. Der Heiland. Der Menschensohn.

Seit mehreren Stunden schon hatte der Messias an einen Baum gelehnt auf dem Boden gesessen und dabei stumpfsinnig sich hin gestiert und mit einiger Mühe nachgedacht. An das, was zuvor geschehen war, konnte er sich nur noch in Bruchstücken erinnern, und auch von dem, was er als nächstes tun solle, hatte er nur eine ziemlich vage Vorstellung. Die zwei Jahrtausende, die er seit seiner letzten Hinrichtung und Auferstehung im Himmel hatte verbringen müssen, waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Viel war in den paradiesischen Sphären nicht zu erledigen gewesen, so dass er sich sogar als göttliches Wesen einen Begriff jenes Zustands machen konnte, den die Menschen gemeinhin als Langeweile zu bezeichnen pflegen. Doch trotz seiner deutlich ausgeprägten Unterbeschäftigung war diese lange Zeit in einer rauschhaften, kaum merklichen Weise an ihm vorübergeeilt, denn im Himmel gingen die Uhren nicht nur anders und vor allem schneller, sondern besaßen aufgrund der unmöglichen Skalierbarkeit des Ewigen auch weder Zeiger noch Ziffernblatt. Dass die Zeit für die nächste Parusie auf dem Erdenrund nun gekommen war, hatte sich lediglich durch eine beherzt  ausufernde Anomalie, gewissermaßen also eine willkürliche Amplifikation der latenten Instabilität im Organisationsgefüge der himmlischen Instanzen ergeben; nichts anderes als ein dummer Zufall also, den selbst die klügsten Evangelisten nicht treffgenau hätten vorhersagen können. Tatsächlich trug niemand die Verantwortung dafür, dass der Messias nun in einer recht unbequemen Haltung auf dem harten Boden der Erde im Reich der Menschen saß und davon selbst ein wenig überrascht war.

(…)

Formpressfleisch

Heute geht Karl eigentlich nicht mehr raus auf den Flur. Er verlässt seine Wohnung nicht nur nicht, nein, er KANN sie nicht mehr verlassen, weil er so unfassbar fett geworden ist. Vor etwa fünf Jahren hat er angefangen zuzunehmen, sich erst Stück für Stück, dann immer schneller und schneller in ballonartiger Weise aufzublähen. Erst war es nur ein kleines Bäuchlein von jener Art, wie es die meisten Männer im mittleren Alter entwickeln. Eine kosmetische Unzulänglichkeit, ein minimales Makel, aber nicht weiter schlimm, hat er sich damals gedacht, für Sport und Diät bestand noch kein Anlass. Irgendwann müsste man mal gesünder leben, weniger essen und sich etwas mehr bewegen, so seine damalige Beschwichtigung. Aus dem Bäuchlein wurde jedoch schnell ein Bauch und daraus dann ein richtiger Ranzen, eine Plautze, eine Fettschürze, die ihm immer mehr den Blick auf sein Gemächt verdeckte. Auch kam er dort nicht mehr mühelos heran und musste die Fettwulst jedesmal beiseite schieben, wenn er pinkeln oder wichsen wollte. Ebenso verlor er auf diese Weise den optischen Kontakt zu einer wichtigen Region seines Körpers, die er, ganz nach dem Motto „Aus den Augen, aus dem Sinn“, immer weiter aus den Verrichtungen zur Körperhygiene ausklammerte. Für Sport und Diät war es von da an endgültig zu spät, denn an den abdominalen Protuberanzen (lat. Anschwellungen) würde er sowieso nichts mehr ändern können – zumindest nicht innerhalb eines vertretbaren Korridors an Anstrengung und Mühe. Fortan wulste sich alles aus, platzte alles hervor und stülpte sich alles heraus, was außen an ihm dran war, der Hals schwoll an und legte sich in Ringen auf die Schultern, von den Oberarmen begann das Fett in Lappen herunter zu hängen, die Oberschenkel verschwanden hinter tranigen Wülsten vollgesogener Haut. Wo die Haut dünner war, begannen Fett, Eiter und Talg zu koagulieren und Stalagtiten auszubilden.

(…)

Frank Spatzier
Frank Spatzier

Kommentare sind geschlossen.

  • Kategorien