Was haben wir nicht alle gestaunt, als am 26. September vergangenen Jahres ein schier endloser Werbespot zum ersten Mal aufmunternd gute Laune in die Wohnzimmer des Volkes streuen sollte. Die so einfache wie tumbe Botschaft „Du bist Deutschland“, in Variationen vorgetragen von im wesentlichen kulturindustriell prominenten Personen, war seitdem in aller Munde, regte zu Kontroversen an, erntete Lob und Widerspruch. Um das Ganze abzurunden, wurden die verunsicherten Bürger von Plakatwänden herab mit der Behauptung konfrontiert, sie seinen jemand anderes – wahlweise Beate Uhse, Tim Mälzer oder etwa – besonders angsteinflößend – Günter Jauch. Hinter dem multimedialen Angriff auf die Identitäten der staatsbürgerlichen Zielgruppe steckte die mit 30 Millionen Euro gewichtigste Propagandakampagne seit dem Nationalsozialismus; aus der Taufe gehoben von den 25 führenden Medienunternehmen der Republik.
Die Liste der „Initiativpartner“ liest sich wie das Who is Who der deutschen Medienwirtschaft. Bertelsmann, Axel Springer, Bauer, Burda, ARD, ZDF, FAZ, Gruner + Jahr, und RTL sind hier ebenso vertreten, wie Pro 7, Premiere, WAZ oder Focus. Sie alle geben sich die Ehre, ihre geballte Medienmacht für das hehre Ziel einzusetzen, dem maroden Land wieder auf die Sprünge zu helfen und seine demoralisierte Bevölkerung zu frischem Tatendrang anzutreiben. Heftige Kritik konnte die Initiatoren ebenso wenig von ihrem Propagandafeldzug abhalten, wie das Auftauchen eines gleichlautenden Slogans in historischem Bildmaterial aus der Zeit des Nationalsozialismus. Wäre die Sache nicht so ernst, wäre es ein guter Grund zum Totlachen gewesen, dass in einem Bildband über die Geschichte der Stadt Ludwigshafen ein Plakat zu bestaunen war, auf dem die gleiche wohlfeile Botschaft prangte – zusammen mit dem Konterfei Hitlers.
Dem ideologischen Sendungsbewusstsein der Kampagnenmacher tat dies keinen Abbruch, ermittelte doch die ebenfalls zur Initiatorengruppe gehörende GfK (Gesellschaft für Konsumforschung) eine überwiegend positive Resonanz in der Bevölkerung. 40% der Befragten über 14 Jahren äußerten sich positiv gegenüber der Kampagne und stünden so nur einer Minderheit von 28% Miesepetern gegenüber. Das Image Deutschlands sei so maßgeblich verbessert worden, der Aufschwung nun fühlbar. Derartig frohe Kunde veranlasste die Initiatoren gleich zu einer Fortsetzung der Chose, die im vergangenen Januar eigentlich ausgelaufen wäre. So startet im kommenden Herbst Teil zwei der Massenmobilmachung, nachdem die Ablenkungen durch die WM verpufft sind und sich nicht womöglich noch ausländische Fußballgäste angesprochen fühlen könnten….
Warum nicht Rosa Luxemburg?
Es handele sich um eine „unpolitische und überparteiliche Kampagne“ lässt sich den FAQ’s auf der kampagneneigenen Website (http://www.du-bist-deutschland.de) entnehmen. Unpolitisch? Hier kann man sogleich „ideologiefrei“ assoziieren, bevor der Blick ins Register der Initiatoren den Verdacht des puren Gegenteils erhärtet. Dieses wird angeführt vom Bertelsmann-Konzern, auf dessen Vorstandsvorsitzenden Gunter Thielen die Idee der größten „nichtkommerziellen Kampagne der Medienindustrie“ zurückgeht. Selbstredend tummeln sich gleich mehrere Tochterfirmen des Mediengiganten im Reigen der erlauchten Initiativpartner. Eigentlich müsste man sich wundern, warum Bertelsmann als größter Medienkonzern Europas und zweitgrößter der Erde dafür die Kooperation anderer Unternehmen benötigt, zumal die konzerneigene Kommunikationsmacht locker ausreicht und auch fleißig dafür eingesetzt wird, die neoliberal geprägte Deutungshoheit des Kapitals zu verfestigen. Bekanntlich kämpft Bertelsmann an allen denkbaren Fronten der gesellschaftlichen Einflussnahme und flankiert die Arbeit seiner TV-Sender und Postillen durch eine Reihe einflussreicher Think-Tanks, deren „objektive“ wissenschaftliche Forschungsergebnisse für den Einzug in offizielle politische Entscheidungsprozesse bestimmt sind. Die beste Propaganda ist eben die, die man nicht bemerkt.
Sieht man einmal von der Tatsache ab, dass sich die beteiligten Medienunternehmen mehrheitlich auch in ihrer eigenen Berichterstattung tendenziell im neoliberalen Mainstream bewegen, ihn durch ihre Informationsmacht geradezu weiter gedeihen lassen, muss auch die Auswahl der „Du bist….“-Vorbilder im Hinblick auf ihr angeblich unpolitisches Wesen stutzig machen. Das Volk soll sich besonders mit fleißigen Unternehmern, bekannten Sportlern und beliebten TV-Plaudertaschen identifizieren, also Leuten, deren Meinungsspektrum sich mutmaßlich auf einer Skala zwischen den Polen „opportunistisch“ und „affirmativ“ abtragen lässt. Warum steht da nicht „Du bist Rosa Luxemburg, Rudi Dutschke, Theodor W. Adorno, Sarah Wagenknecht, Kurt Tucholsky“ oder ähnliches? Genügend Namen für kritische Köpfe, die auch etwas bewegt haben, ließen sich unschwer finden. Weshalb sich die Angesprochenen ausgerechnet nicht mit gesellschaftlich und politisch kritischen Deutschen identifizieren sollen, verweist auf eine implizite Unterstellung der Kampagne: Kritisches und im weitesten Sinne auch „linkes“ Denken ist in Zeiten des rasanten neoliberalen Umbruchs gleichbedeutend mit pessimistischem, unkonstruktivem und fortschrittfeindlichem Lamentieren.
Die Idee dahinter ist die Vorstellung vom nationalen Wirtschaftstandort, der mit anderen Standorten um globalmobiles Kapital konkurriert und dies am besten tut, indem er nomadisierenden Unternehmen und scheuen Finanzströmen die schönstmöglichen Investitionsbedingungen präsentiert. Hier muss die Bevölkerung mitspielen, die als disponible Masse von brachliegendem und verwertetem Humankapital die unangenehme Eigenschaft mitbringt, Befindlichkeiten zu entwickeln. Das wäre vernachlässigbar, wären nicht die Staatsapparate auf eine gewisse politische Beteiligung und Loyalität der Bürger in Form von Wahlen und konformem Verhalten angewiesen, was sie letztlich in die Lage versetzt, die politischen Rahmenbedingungen für den transformierten Produktions- und Akkumulationsprozess bereitstellen zu können. Ebenso hängen die anvisierten Investitionsbedingungen von einem halbwegs stabilen sozialen Frieden und einem Minimum an gesellschaftlicher Kohäsion ab, was um so schwerer aufrecht zu erhalten fällt, je ungenierter das nationale Humankapital im Dienste größtmöglicher Renditen ausgebeutet und je mehr seine im Zuge ausufernder Rationalisierungen freigesetzten Anteile gesellschaftlich entwertet und marginalisiert werden. Da wundert es kaum, dass man in der „unpolitischen und überparteilichen Kampagne“ dennoch mit Ludwig Erhard der Meinung ist, Ökonomie sei zur Hälfte Psychologie und wirtschaftlicher Erfolg hänge maßgeblich von der Stimmung in der Bevölkerung ab (http://www.du-bist-deutschland.de/opencms/opencms/FAQs/FQ000006.html; 30.3.2006). Und je mehr die Bevölkerung von der Ökonomie und ihren politisch hergestellten Rahmenbedingungen in die Enge getrieben wird, desto tiefer kann seine Stimmung fallen.
Die Zeiten sind hart für die Menschen im globalen Wettbewerb des neoliberalen Kapitalismus. Anstelle seiner immer weiter gepredigten Verheißungen gilt es, den Gürtel enger zu schnallen und den bisher erreichten Grad an sozialen und politischen Sicherheiten als unzeitgemäße Investitionshemmnisse zu erkennen. Aus Sicht des Kapitals neigen Menschen in ihrer Eigenschaft als zu unökonomisch-irrationalen Emotionen und Reflexionen befähigtes Humankapital in dieser Situation zu Fehlattributionen – sie lassen den Kopf hängen und sind sauer auf die Umstände. Sie engagieren sich nicht im Wettbewerb, indem sie sich seinen Bedingungen unterwerfen, sondern verfallen in einen unschönen Zustand der frustrierten Apathie, die nur zu leicht in Devianz umschlägt. Was liegt da näher, als die Attributionsweise von extern auf intern umzuschalten, so dass Entfremdungs- und Unbehaglichkeitsimpulse der eigenen Unzulänglichkeit zugeschrieben werden. Die Mobilisierung für den globalökonomischen Wettbewerb zielt auf ein Volk von „Selbst-Unternehmern“ ab, deren einzige Solidarität dem heimischen Wirtschaftstandort gilt; die sich unter sachzwanghaften Wettbewerbsbedingungen für eine prekäre Existenz verwerten lassen und ihr wahrscheinliches Scheitern sowie die zunehmende Unsicherheit ihres täglichen Lebens sich selbst und ihrer mangelnden Konkurrenzfähigkeit zur Last legen.
Wachstum, Ungleichheit und Demokratie
Drei Jahrzehnte der neoliberalen Transformation haben gezeigt, dass die Versprechungen von ökonomischer Prosperietät infolge einer politischen Verschönerung nationaler Investitionsbedingungen sowie die immer radikalere Ausrichtung auf einen zunehmend grenzenloseren Wettbewerb nicht eingelöst werden konnten – zumindest für die größten Teile der beteiligten Gesellschaften. Zu beobachten ist eine fortschreitende Ausbreitung von Formen verdeckter und offener Armut in den reichen kapitalistischen Kernländern als Folge sinkender Löhne, grassierender Arbeitslosigkeit und der Einstampfung sozialstaatlicher Einrichtungen. Zu beobachten ist aber auch ein rasantes Anwachsen von Konzerngewinnen sowie konzentriertem Reichtum in bestimmten Gesellschaftssegmenten, das das gebetsmühlenartige Lamentieren über angeblich miese Standortbedingungen durch feiste Cheflobbyisten wie Hundt oder Thumann ins Märchenreich der Propaganda verweist. Der stets hochgehaltene positive Zusammenhang von Wachstum und gesamtgesellschaftlichem Wohlstand – immerhin ein hochgehaltener Leitsatz der herrschenden Wirtschaftstheorie – hat sich als Schimäre herausgestellt. Vielmehr scheint das Gegenteil zu gelten und als empirisches Faktum die ökonomische Führungstheorie zu falsifizieren. Diese erweist sich indes als extrem falsifikationsresistent. Ganz anders, als man es nach den (auch in bürgerlichen Kreisen sehr anerkannten) Regeln des Popperschen Falsifikationismus erwarten müsste, scheint die neoliberale Theorie um so leidenschaftlicher vorgetragen zu werden, je mehr ihre Aussagesätze daneben treffen. Unter dem Vorzeichen neoliberaler Strukturanpassungen hat sich die Kluft zwischen Arm und Reich enorm vergrößert. Der Verteilungsbericht 2005 des WSI (Schäfer, Claus: Weiter in der Verteilungsfalle – Die Entwicklung der Einkommensverteilung in 2004 und den Vorjahren, in: WSI-Mitteilungen 11/2005 ) betont, dass es sich bei der ungleichen Einkommensentwicklung sowie der Fiskalpolitik, die diese noch unterstützt, um langfristige Trends handelt. Während die Netto-Lohnquote beständig abnimmt, wird die Belastung von Einkommen aus Unternehmertätigkeit konsequent abgeschwächt. Demnach finanziert sich der Staat zu 75,6 % aus Lohn- und Verbrauchssteuern, die aus Entstehung und Verausgabung von Arbeitseinkommen und Lohnersatzeinkommen anfallen. Unternehmerische Gewinnsteuern sind dagegen nur noch zu 15,1 % an der Finanzierung des Staates beteiligt.
Die seit dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems begonnene Liberalisierung der Finanz- und Devisenmärkte hat zudem zu einer Dominanz spekulativer Investitionsinstrumente mit hohen Renditeerwartungen geführt, was eine Vernachlässigung von wachstums- und beschäftigungswirksamen Investitionen zur Folge hatte. Die ökonomischen Vorteile der Besitzer von Geldvermögen steigen in dem Maße, wie die Abhängigen von Lohnarbeit und Transfereinkommen in die Defensive geraten. Letztere disqualifiziert die Propaganda der neoliberalen Ideologen schließlich als Opfer politischer und sozialer Verhältnisse, die sich den sachzwanghaften Erfordernissen einer finanzmarktdominierten Globalökonomie in anachronistischer Weise immer noch in den Weg stellen. Die politischen und sozialen Verhältnisse haben aber einen Haken: Zumindest in den Zentrumsländern haben die Bevölkerungen durch den demokratischen Willensbildungsprozess ein gewisses Wörtchen an ihrer Ausgestaltung mitzureden. Auch wenn dieser in Systemen der „virtuellen Einheitspartei“ (Agnoli) mehr die Züge einer Farce aufweist, bleibt der Rekurs des politisch-administrativen Apparates auf den demokratisch ermittelten Willen des Volkssouveräns eine wesentliche Grundlage seiner Legitimation. Wachsende Ungleichheit mit all ihren Folgen, verursacht durch eine globale Form der Kapitalakkumulation, unterminiert tendenziell die Legitimation jener politischen Verhältnisse, die sie verursacht, die den „Geist aus der Flasche gelassen“ haben.
Und genau hier liegt der Hund begraben. Die Schaffung von Ungleichheit ist ein zentrales Moment der fortschreitenden Kapitalakkumulation. Ungleiche globale, kontinentale, regionale und lokale Einheiten stimulieren den Kapitalfluss ebenso, wie ungleiche Lebensbedingungen, Eigentumsverhältnisse, Mobilitätspotentiale oder Bildungschancen auf individueller Ebene. Ökonomisches Wachstum basiert geradezu auf der Produktion von Ungleichheit, denn als Folge des Akkumulationsprozesses ist es wie dieser abhängig von der Ausbeutung ökonomischer Einheiten. Diese vollzieht sich in einem komplexen gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungsprozess, der politisch flankiert bis vorangetrieben wird und zudem prinzipiell krisenhaft verläuft. Und dieser schließt auch die jeweilige Ausgestaltung demokratischer Verfahren und Institutionen ein.
Die politische Dimension des Akkumulationsprozesses – und damit der staatlich-institutionelle Kern liberaler Demokratie – lässt sich am Konstrukt der Globalisierung besonders gut beobachten. Als Mitte der 1970-er Jahre das fordistische Akkumulationsmodell endgültig zerbrach und nach und nach durch seinen postfordistischen Nachfolger ersetzt wurde, legte eine ganze Serie politischer Entscheidungen von Regierungen der Zentrumsländer die Grundlage zur fortschreitenden Internationalisierung der Kapitalakkumulation. Dies hatte u.a. zur Folge, dass die wachsende Mobilität des Kapitals in immer größeren Widerspruch zur Wirkungsreichweite nationaler Regierungen geriet und nationalstaatliche Politiken immer abhängiger von der Gunst internationaler Finanzströme wurden. Fortan konnten die Ergebnisse der demokratischen Willensbildung – so unvollkommen sie auch damals bereits ausfiel – durch das Verhalten des internationalen Kapitals abgestraft werden. In vorauseilendem Gehorsam von zunehmend ideologisch vereinnahmten Parteien und Regierungen begann sich die Legitimationsgrundlage des Regierungshandelns zu verschieben. Immer weniger kam es auf die wie auch immer gestaltete Aggregation, Kanalisierung und Transformation des Willens des „demokratischen Souveräns“ in politische Agenden an. Immer mehr verlor die Rückführbarkeit politischer Entscheidungen auf den Willen des Volkes an Relevanz, während sich der Trend verfestigte, ihre Orientierung an den Imperativen einer internationalisierten Ökonomie zur Legitimationsgrundlage zu machen. Das Neusprech der neoliberalen Ideologen hält hierfür Vokabeln wie „Wettbewerbsfähigkeit“ oder „Zukunftsfähigkeit“ bereit; die Politische Wissenschaft indes bemüht hierfür gerne das Konstrukt der „Output – Legitmiation“, dernach sich die legitimatorische Qualität politischer Entscheidungen daran bemisst, was sie insgesamt dem Volk an Nutzen bringen. Sind die ökonomischen Imperative durch die sukzessive Erweiterung ihrer Wirkmächtigkeit zu unhinterfragbaren Sachzwängen mutiert, bemisst sich dieser Nutzen nur allzu leicht an der Bedienung ihrer Forderungen. Eine gegenüber der Herrschaft des Kapitals opportune und affirmative Politik erhält so allzu leicht die Weihen einer demokratischen Scheinlegitimation.
Verunsicherung in der Konkurrenzgesellschaft
Der Postfordismus unserer Tage ist geprägt von einem globalen Wirtschaftssystem, das die Spielregeln der politischen Prozesse auf seinen untergeordneten Handlungsebenen vorgibt. Nationalstaaten befinden sich in einem gnadenlosen Standortwettbewerb, der sich nach oben hin zu den regionalen Wirtschaftsblöcken ausweitet und nach unten im gegenseitigen Konkurrieren atomisierter „Selbst-Unternehmer“ fortsetzt. Die Elemente übergeordneter und untergeordneter Einheiten befinden sich untereinander im Wettbewerb und bestehen ihrerseits aus Subgruppen, die ebenso gegeneinander um den Zugang zu Ressourcen und Kapitalien kämpfen. Trotz gewisser „Erosionserscheinungen“ und dem wachsenden Stellenwert supranationaler Institutionen behält der Nationalstaat in diesem Szenario seine wesentliche Bedeutung für die Bestandsfähigkeit des Kapitalismus bei. Aufgrund seiner Verfügungsgewalt über physische Gewaltmittel und seiner speziellen Form der regulierenden Institutionalisierung von antagonistischen Klassenverhältnissen kann die Ökonomie ohne seine politischen Strukturen nicht überleben. Noch bevor je unterschiedliche Investitionsbedingungen später den Zündstoff für Formen der internationalen Kapitalakkumulation abgeben, ist die kapitalistische Ökonomie zunächst einmal abhängig von einem Set basaler Grundvoraussetzungen wie etwa Rechts- und Vertragssicherheit, infrastrukturellen Grundbedingungen, dem Schutz des Privateigentums oder physisch-gewaltförmigen Hilfestellungen zur Eindämmung von Interessenskonflikten. Auch ein Mindestmaß an sozialer Kohäsion ist notwendig, damit der Produktionsprozess ungestört ablaufen kann und die zugehörigen Arbeits- und Konsumnormen erfüllt bleiben. Erst wenn diese Grundvoraussetzungen gegeben sind, kann sich der überregionale bis globale Akkumulationsprozess unter Ausnutzung der unterschiedlichen Produktions- und Verwertungsbedingungen in den abgegrenzten ökonomischen Räumen voll entfalten. Dabei untergräbt der neoliberal transformierte Kapitalismus tendenziell seine nationalstaatlich organisierten Bestands- und Reproduktionsbedingungen einschließlich der demokratischen Legitimation auf der Seite seiner politisch-sozialen Einfassung. Die Konkurrenz der Standorte um Gunst und Gnade des globalmobilen Kapitals mündet in einen rasanten Abbau wohlfahrtsstaatlicher Errungenschaften, ökologischer Schutzbestimmungen und anderer ausgleichender Regulative. Als „Reformen“ betitelte Restaurationen werden von den Eliten aus Politik und Wirtschaft gebetsmühlenartig eingefordert und auf ihre Agenden gesetzt. In phantasieloser Einseitigkeit reagieren sie so auf jene „Sachzwänge“, die als unwiderlegbare Argumente demokratische Prozesse mehr und mehr ins Abseits drängen, indem sie nur noch eine einzige Form nunmehr alternativlos gewordenen Handelns zulassen. Unerwähnt bleibt indes, dass diese scheinbar unabwendbaren Sachzwänge auf Entwicklungen beruhen, die in längerfristigen politischen Prozessen systematisch geschaffen worden sind. Geschaffen von intelligenz- und vernunftbegabten Politikern, Beraterstäben und sonstigen Experten in der bewussten Antizipation ihrer wahrscheinlichen und auch ideologisch gewünschten Folgen. Geschaffen aber auch abseits jener Dimensionen der sogenannten „Input-Legitimation“, die sich auf Information und Partizipation der Bevölkerung und damit auf die kommunikative Ermöglichung eines Willensbildungsprozesses bezieht.
Multidimensionale Ungleichheiten auf allen Handlungsebenen vollziehen sich dabei vor dem Hintergrund der „qualitativen Angleichung“ (Altvater), also der allumfassenden Übersetzung gesellschaftlicher Kategorien in Kapital- und Geldbegriffe. Im verzweifelten Kampf um ökonomische Vorteile werden die ungleichen Wirtschaftssubjekte dann wieder vereint. Oder wie es Engels ausdrückt: „Weil das Privateigentum jeden auf seine eigne rohe Einzelheit isoliert und weil jeder dennoch das gleiche Interesse hat wie sein Nachbar, so steht ein Grundbesitzer dem andern, ein Kapitalist dem andern, ein Arbeiter dem andern feindselig gegenüber. In dieser Verfeindung der gleichen Interessen eben um ihrer Gleichheit willen ist die Unsittlichkeit des bisherigen Zustandes der Menschheit vollendet; und diese Vollendung ist die Konkurrenz“ (aus: Friedrich Engels: Umrisse einer Nationalökonomie, MEW [= Marx-Engels-Werke], Bde. 1 – 35, Berlin 1956 ff., Bd. 1, S. 499 – 524).
Dieser Kampf jedes gegen jeden bleibt nicht ohne Folgen. Zum einen verliert die Gesellschaft wesentliche Kohäsionsgrundlagen: soziale Milieus zerbröckeln und entlassen ihre ehemaligen Mitglieder orientierungslos in den asozialen Raum des allumfassenden Wettbewerbs; mit der Privatisierung verallgemeinerbarer Risiken werden kollektive Schicksale in individuelle Verantwortlichkeiten überführt, deren Träger wegen ihrer Unabwendbarkeit nicht mehr anders können, als resigniert schwarz zu sehen. Zum anderen suchen die zunehmend ausgegrenzten und sich selbst überlassenen Menschen Schutz und Trost in den trügerischen Gemeinschaften rassistischer, nationalistischer oder religiöser Prägung, während sich andere wiederum in Formen des Eskapismus verlieren, der sich von der Flucht in Computerspiele über Alkohol- und Drogenmissbrauch bis hin zum exzessiven Abtauchen in seichter Unterhaltung äußert. Auf die Stimmung drückt zusätzlich die allgegenwärtige Gefährdung durch externe Effekte der globalen Produktionsprozesse sowie durch den internationalen Terrorismus, der in gewisser Weise auch diesen externen Effekten zuzuschreiben ist. Eingezwängt zwischen drohender Klimakatastrophe, dem nächsten möglichen Terroranschlag, genmanipuliertem Essen und dem endgültigen Verlust der Illusion sicherer Renten muss der postindustrielle Bürger seinen Identitätswechsel vom soziopolitisch integrierten Staatsbürger zum politökonomisch atomisierten Marktsubjekt vollziehen. Ohne die „guten alten Zeiten“ über den grünen Klee loben zu wollen, kann man bei dieser Prekarisierung des Lebens nur verlieren.
Resignation, Fluchtreflexe und düstere Emotionen sind indes keine guten Ratgeber in einer Welt der totalen Marktvergesellschaftung. Gefragt sind vielmehr unternehmerische Eigenschaften, Anpassungsfähigkeit, Mobilität, Flexibilität und eine gute Portion Konformismus. Erfolg zu haben bedeutet, sich nach den neuen Spielregeln gut verkaufen, sich selbst ökonomisch mobilisieren zu können, während es umgekehrt dem Erfolglosen daran mangelt. Sein Untergang war dann seiner fehlenden Konkurrenzfähigkeit geschuldet, nur er alleine dafür verantwortlich. In der durchökonomisierten Gesellschaft, die mit dem Anwachsen ihrer Ökonomisierung geradezu an Gesellschaftlichkeit verliert, dürfen nicht die übergeordneten Strukturen als beschränkende Determinanten individueller Handlungsmöglichkeiten enttarnt werden – die interne Attribution avanciert zur Bürgerpflicht. Während die Gültigkeit der Regeln nicht in Frage gestellt werden, an ihrer Veränderung mangels subjektiver und objektiver politischer Partizipationsmöglichkeiten nicht mitgearbeitet werden kann und darf, muss sich das Handeln der Menschen an den so geschaffenen Anreizen und Verheißungen orientieren. Ein marktgerechtes Verhaltensrepertoire ersetzt den Raum der individuellen Selbstbestimmung, dessen nicht-marktkonforme Inhalte in die Verdrängung geraten. Selbstverwirklichung wird unablässig propagiert, findet aber nur noch in den engen Grenzen des ökonomisch Opportunen statt.
Freilich bedarf es großer Anstrengungen, die neuen Verhaltens- und Denkimperative zu verankern. Die Etablierung eines neuen Akkumulationsmodus verläuft nicht ohne krisenhafte Begleiterscheinungen. Bevor ein hegemonialer Status erreicht wird, müssen sämtliche relevanten politischen und gesellschaftlichen Institutionen auf ihn abgestimmt werden, von der Familie über die öffentliche Form der Meinungsbildung bis hin zu den Feinheiten des politisch-administrativen Systems. Im Verlauf dieses Prozesses können Instabilitäten aufkommen und den Prozess gefährden, ihm aber auch eine bestimmte Verlaufsrichtung anempfehlen. Der Verlust an gesellschaftlicher Kohäsion, der auf individueller Ebene mit psychoaffektiven Veränderungen (nicht etwa „Störungen“, denn diese gelten nur in Relation zum jeweils herrschenden und sozio-ökomomisch definierten Normalstandard) und auf kollektiver Ebene mit einer Zunahme von bestimmten Formen der Devianz und Delinquienz (etwa Zunahme der Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen) sowie an weiteren gesellschaftlich wirksamen Nebenfolgen, wie etwa der außerordentlich geringen hiesigen Geburtenrate, einhergeht, unterminiert tendenziell die Reproduktionsbedingungen des neoliberalen Akkumulationsmodus. Besonders schlimm trifft es die demokratische Legitimationsbasis des neuen kapitalistischen Modells, denn diese kann sich zum einen noch nicht ganz ihrer fordistischen Herkunft entledigen und ist zum anderen nur schwer in der Lage, den sich rasant ändernden politökonomischen Sachzwängen hinterher zu eilen. Die wachsende Kluft zwischen dem (theoretischen) Anspruch demokratischer Regierungssysteme, politische Entwicklungen im Vornhinein bestimmen zu wollen, und ihrer tendenziellen funktionalen Umkehrung im neoliberalen Kapitalismus, Quasi-Unabwendbares ex-post-facto zu legitimieren, führt uns wieder zurück zur Werbekampagne „Du bist Deutschland“, die vor diesem Hintergrund als Versuch der Totalmobilmachung im globalen Wirtschaftswettbewerb daherkommt.
Du bist Humankapital!
War der Rückzug ins Private bislang eine Maßnahme, dem um sich greifenden Staat zu entfliehen, kann in der postfordistischen Gesellschaft dagegen kein Rückzug mehr vor der Allgegenwart ökonomischer Herrschaft mehr gelingen. Der Mensch wird in seiner gesamten Subjektivität zunehmend aufgesogen von den Erfordernissen und Auswirkungen des globalen Verwertungsprozesses, die bis tief hinein in seine privatesten Lebenszusammenhänge wirken. Die staatliche Herrschaft ist zwar in Teilen „verschlankt“ und privatisiert worden, was sich aber vornehmlich in Richtung der Handlungsfreiheit des Großkapitals ausgewirkt hat. Dem einfachen Volk indes schaut der Staat mit Lauschangriffen unverschämter denn je in die Wohnzimmer und hat sein repressives Instrumentarium durch verschärfte Gesetzgebung und EDV-gestützte Allwissenheit über das verfassungsmäßig tolerierbare Maß hinaus ausgeweitet. Als Humankapital wird der Mensch seiner Verwertung zugeführt und in seinem gesellschaftlichen Sein auf Kategorien ökonomischer Verwertbarkeit reduziert. Bildung zum Beispiel ist nicht länger die Aneignung von Wissen im Sinne humanistischer Ideale sondern ein Investitionsgut zur späteren Verwertung auf dem Arbeitsmarkt. Die flächendeckende Erhebung von Studiengebühren verdeutlicht die Überführung von Bildungsinhalten in kommerzielle Waren. Die allgegenwärtige Kulturindustrie versorgt die Menschen (dank VIVA & Co. schon im frühen Jugendalter) mit den passenden Deutungsmustern und vereinheitlichter Konfektionsware, die kaum mehr individuelle Interessenverfolgung abseits der Kulturwaren zulässt. Marktmechanismen und Konkurrenzdenken dringen in die inneren Lebensbereiche ein und spielen Arbeitsplatzinhaber untereinander sowie gegenüber Erwerbslosen aus. Solidarität zerbröckelt und hinterlässt vereinzelte Marktindividuen, die sich im Konkurrieren um den Zugang zu Ressourcen systemisch feindselig begegnen. Gleichzeitig wird bei schwindenden Lohneinkommen der Konsum zur Bürgerpflicht stilisiert.
Humankapital, ein „Unwort“ des Jahres 2004, bezeichnet in letzter Konsequenz eine Form der Entgesellschaftlichung des Menschen, dessen soziale Verbindungen und Verwurzelungen nunmehr auf eine betriebswirtschaftliche Knappheitslogik reduziert werden. Ökonomische Rationalität dringt in alle Lebensbereiche ein und verleiht dem individuellen Entscheidungs- und Wahrnehmungshorizont eine spezifische Richtung. Gleichzeitig lässt sich der Mensch als Kapitalsorte durch Investoren hinsichtlich seiner Rentabilität mit anderen Kapitalsorten vergleichen. Und doch stören irrationale und emotionale Impulse zuweilen das Investitionsklima, indem sich individuelles Verhalten eben nicht an den Erfordernissen der Märkte orientiert und damit eine potentielle Gefahr für jeweiligen Wirtschaftsstandort darstellt. Kritische Abtrünnige mit subversiven Ansichten zählen hierzu ebenso, wie frustrierte Modernisierungsverlierer und orientierungslose, medienverdorbene Jugendliche. Da liegt es nahe, das verhaltenssteuernde System aus staatlicher Repression und massenmedialer Ideologieverbreitung um ein weiteres Element der Mobilmachung im Wirtschaftskampf zu ergänzen. „Du bist Deutschland“ erscheint so als Konsequenz einer Entwicklung, die Herbert Marcuse bereits vor 40 Jahren weitsichtig beschrieben hat: „Die auf den fortgeschrittensten Gebieten der industriellen Zivilisation Gestalt annehmende Gesellschaft der totalen Mobilisierung verbindet in produktiver Einheit die Züge des Wohlfahrts- mit denen des Kriegsführungsstaates (Warfare State). (…) Die Haupttendenzen sind bekannt: Konzentration der Volkswirtschaft auf die Bedürfnisse der großen Konzerne, wobei die Regierung sich als anregende, unterstützende und manchmal sogar kontrollierende Kraft betätigt; Verflechtung dieser Wirtschaft mit einem weiten System von militärischen Bündnissen, monetären Übereinkünften, technischer Hilfe und Entwicklungsplänen; allmähliche Angeleichung der Arbeiter- an die Angestelltenbevölkerung, der Führungstypen bei den Unternehmer- und Arbeitnehmerorganisationen, der Freizeitbeschäftigungen und Wünsche der verschiedenen sozialen Klassen; Förderung einer prästabilierten Harmonie zwischen Wissenschaft und nationalem Anliegen; Angriff auf die Privatsphäre durch die Allgegenwart der öffentlichen Meinung, Auslieferung des Schlafzimmers an die Kommunikation der Massenmedien„. (Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, 5. Aufl., München 1994 [zuerst 1964], S. 39).