Dieser Text setzt sich zusammen aus Beiträgen für ein Online-Seminar der Friedrich-Naumann-Stiftung zum Thema Überwachungsstaat und Bürgerfreiheit.
Seit den Anschlägen vom 11.9.2001 sind sich nun auch die westlichen Industriestaaten ihrer Verwundbarkeit durch den internationalen Terrorismus bewusst. Ohne auf nähere Details und naheliegende Mutmaßungen über die Hintergründe dieses Anschlages eingehen zu wollen, bestanden die innenpolitischen Folgen aus einer rigorosen Verschärfung von Maßnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit in den westlichen Industriestaaten, die deren freiheitliche und rechtsstaatliche Grundsätze erodieren ließen. Mit den Bombenfunden in deutschen Nahverkehrszügen im Juli 2006 wurden Forderungen nach einer weiteren Verschärfung der betreffenden Maßnahmen formuliert. Insbesondere die Einführung einer Anti-Terror-Datei sowie der Ausbau der Videoüberwachung öffentlicher Plätze rückte in den Fokus. Der Trend zur Totalüberwachung der Gesellschaft erhielt so einen weiteren Anschub. Zudem wird die Gefahr künftiger Terroranschläge zum willkommenen Anlass genommen, rechtliche Grundlagen zum Einsatz der Bundeswehr im Innern zu schaffen, wozu grundgesetzliche Änderungen nötig sind. Kurzum, die gesamte Sicherheitsarchitketur der Bundesrepublik steht vor dem Hintergrund terroristischer Gefahrenszenarien zur Disposition – und mit ihr Freiheitsrechte wie demokratische Grundwerte.
Das alles kann indes nicht diskutiert werden, ohne die jüngeren sozio-ökonomischen Entwicklungen vor dem Hintergrund des globalen kapitalistischen Systems zu berücksichtigen. Innere Sicherheit erscheint so mehr und mehr als die Sicherheit einer herrschenden Minderheit vor dem marginalisierten Rest – auf lokaler und globaler Ebene. Dabei fällt auf, dass in dem von politischen Eliten geleiteten öffentlichen Diskurs die strukturellen Ursachen der „Gefährdungslage“ weitgehend ausgeblendet werden. Auch die Rolle der USA, insbesondere in der ökonomisch und strategisch motivierten Unterstützung der afghanischen Taliban in den 1990-er Jahren, findet in der öffentlichen Debatte kaum Niederschlag.
So ist es für die Diskussion der Politik der Inneren Sicherheit und zum Verständnis vom Verhältnis von Freiheit und Sicherheit sinnvoll, die folgenden Entwicklungen zueinander in Beziehung zu setzen:
1. Die „neoliberale“ Transformation des globalen Kapitalismus hat dazu geführt, dass sich innerhalb der hochentwickelten Zentren ein immer größeres Wohlstandsgefälle aufgebaut hat. Während sich immense Vermögen in den Händen weniger Menschen sammeln, wird eine immer größere Zahl der Armut ausgesetzt. Beispiel BRD: Durch die Arbeitsmarkt“reform“ Hartz IV wird relative Mittellosigkeit und ihr ständiges Risiko bis in die Mitte der Gesellschaft getragen. Die von der großen Koalition geplanten Gesetze verschärfen diese Entwicklung noch. Dass sich hierin ein immer größeres Potential an sozialem Sprengstoff ansammelt, dürfte jedem einleuchten.
2. Gleichzeitig wurde aber auch das Wohlstandsgefälle zwischen den Zentren und der Peripherie nicht verringert – im Gegenteil. Die ökonomische Ausbeutung dieser Länder sowie ihre Überflutung mit Gütern der hegemonialen westlichen Kultur weckte – gelinde ausgedrückt – Ressentiments gegen die westlichen kapitalistischen Zentren incl. ihrer Kultur und Religion. Ebenso schreckten vor allem die USA in der Vergangenheit und auch heute nicht davor zurück, autoritäre, undemokratische und sogar terroristische Regime zur Absicherung ihrer eigenen strategischen und ökonomischen Interessen zu protegieren.
3. Die demokratischen Praxen und Institutionen der entwickelten Industriestaaten sind seit Jahren einer zunehmenden Erosion ausgesetzt. Beispiele für die BRD: Funktionsverlust des Parlaments (etwa Repräsentations- und Kommunikationsdefizite), steigende Dominanz der Exekutive und ihrer angeschlossenen Körperschaften (wenn etwa PDS-Abgeordnete durch den BND bespitzelt werden, wird das demokratisch gebotene Kontrollverhältnis umgekehrt), Überlagerung der nationalen Politikformulierung durch die demokratisch sehr defizitäre Europäische Union und andere supranationale Körperschaften, Desinformation der Bevölkerung durch Massenmedien, Aufhebung der Trennung von Polizei und Geheimdienst etc.
4. In einer Zeit der rasanten gesellschaftlichen und ökonomischen Umbrüche herrschen Verunsicherungen und Identitätsbedrohungen vor. Viele Menschen verlieren Halt und Orientierung, fühlen sich in der privatisierten und kommerzialisierten Welt alleine gelassen und hilflos. Im „globalen Dorf“ mit der Kardinaltugend der Mobilität (räumlich und sozial – dann aber eher abwärtsorientiert…), in der nichts mehr sicher und die unmittelbare Zukunft von ökologischen und anderen Katastrophen bedroht ist, fehlt es den Menschen mehr und mehr an Möglichkeiten vernünftiger Orientierung und Identitätsfindung. Religiöser Fundamentalismus und Nationalismus sind die Folgen. An Anzeichen hierfür mangelt es nicht: die Begeisterung der Jugend in Köln beim Besuch von Papst Ratzinger, die Myriaden von deutschen Nationalflaggen während der WM, der islamistische und christliche Fundamentalismus ist uns ohnehin bestens bekannt. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass es vor allem junge Menschen in der Orientierungsphase ihres Lebens sind, die Terroranschläge ausführen (die ideologische Vorbereitung obliegt aber eher Älteren).
So kann man folgende Thesen formulieren:
1. Die ökonomische und politische Entwicklung führt zu sozialen Ungleichheiten auf nationaler und internationaler Ebene. Alles deutet darauf hin, dass die Politiken im nationalen wie internationalen Rahmen eine weitere Zunahme von Ungleichheit produzieren.
2. Der damit zusammenhängende gesellschaftliche Wandel äußert sich für den Einzelnen im Zerbröckeln tradierter Lebenskonzepte und Gewissheiten. Der Zwang zu Mobilität und Flexibilität als Form der Unterordnung unter ökonomische Imperative produziert verunsicherte Menschen, die Schwierigkeiten haben, Orientierung und Identität zu finden.
3. Die zunehmende soziale Ungleichheit produziert ein immer größeres Heer an potenziellen Systemgegnern. Die Terroranschläge vom 11.9.01 bis hin zu den aktuellen Bombenfunden in der BRD zeigen, dass auch mit relativ einfachen Mitteln schwere Schäden angerichtet werden können und geben Beispiele dafür, welchen immensen Schaden Hass, Fanatismus und Unzufriedenheit erzeugen können.
4.Aufgrund der erodierten demokratischen Einrichtungen bestehen für die Benachteiligten subjektive wie objektive Unmöglichkeiten, ihre Interessen zu artikulieren und in den politischen Prozess einzubringen. „Politikverdrossenheit“ ist nur eine der harmloseren Folgen davon. Wenn politische Partizipation auf dem legalen parlamentarischen und außerparlamentarischen Wege aussichtslos ist und scheint, besteht bei entsprechendem Unzufriedenheitsdruck die Tendenz, illegale und gewaltförmige Partizipationsformen zu wählen. Ebenso erhöhen sich Tendenzen zu Radikalisus und Fundamentalismus.
5. Soziale Ungleichheit basiert auf der Macht einer Minderheit, die über entsprechende Ressourcen (von Geld bis hin zu politischen Einfluss) verfügt. Diese Minderheit sieht sich mehr und mehr als Ziel potenzieller Angriffe durch die benachteiligte Mehrheit. Folglich gilt es, letztere durch repressive Techniken zu kontrollieren und damit Macht wie Herrschaft zu stabilisieren. Der politisch-administrative Apparat wird nicht zuletzt aufgrund der erodierten demokratischen Instrumente vom politischen Willen der herrschenden Minderheit dominiert. So erklärt sich auch der Widerspruch, dass in der „neoliberalen“ Ära auf der einen Seite von ökonomischen und politischen Eliten ein Rückbau des Staates gefordert wird, während seine repressiven Apparate auf der anderen Seite ständig ausgebaut werden sollen.
Jeder neue (geglückte wie vereitelte) Terroranschlag führt den herrschenden Eliten die Verletzlichkeit des Systems vor Augen, dem sie letztendlich ihre privilegierte Position verdanken. Sie lassen sich darüber hinaus gut als Vorwände benutzen, weitere repressive Techniken anzuwenden, die ihrem Schutz und Machterhalt dienen und sich in einem Klima der Angst mit Sicherheitsargumenten legitimieren lassen. Indiz dafür ist, dass die offensichtlich angestrebte und technisch mittlerweile durchführbare Totalkontrolle der Gesellschaft in keinem Verhältnis zu einer möglichen Terrorgefahr steht und in ihrer tendenziellen Verfassungsfeindlichkeit genau das zerstört, was sie zu schützen vorgibt. Würde man „Sicherheit“ auch in anderen Politikfeldern derart wichtig nehmen, müsste in der Konsequenz z.B. sofort auf Gen- und Atomtechnik verzichtet werden. Diese irrational scheinende Inkonsistenz lässt sich nur dadurch erklären, dass das Moment der Herrschaftssicherung ein wesentlicher Mitspieler ist. Zugespitzt formuliert bedeutet „Sicherheit“ nichts anderes, als Sicherheit der ökonomischen und politischen Eliten vor den Begehrlichkeiten der unzufriedenen Mehrheit (im internationalen Maßstab), um die Freiheit zu haben, weithin ihre Interessen verfolgen zu können.
Exkurs zum liberalen und materialistischen Staatsbegriff
Im Titel dieses Seminars und in vielen Beiträgen hier im Forum taucht der Staatsbegriff auf. In aller Regel gibt es eine diffuse und wenig greifbare Vorstellung von dem, was damit gemeint sein soll. Bürger schimpfen auf den Staat, loben ihn, stellen Ansprüche an ihn, wollen ihn verschlanken oder erweitern. Doch was genau der Staat ist, bleibt häufig unklar. Ich halte es für hilfreich, ein paar Gedanken zum Staatsbegriff zu formulieren, die man nicht unbedingt teilen muss, die man aber bei der Diskussion im Hinterkopf behalten sollte.
Da wir uns hier unter dem virtuellen Dach der Friedrich-Naumann-Stiftung versammelt haben, möchte ich zunächst paar Worte zur liberalen Position loswerden: Die Trennung von Staat und Gesellschaft ist ein liberales Grundpostulat, wobei der Staat eine vernünftige, vereinbarte Ordnung ist und die Gesellschaft in etwa die Summe der sozialen Beziehungen darstellt, die Subjekt dieser Ordnung ist. Das naturrechtliche Vernunftgesetz beruht nach John Locke auf dem Streben der Menschen nach Sicherung ihres per Arbeit geschaffenen Eigentums.
Im Verfassungsliberalismus hütet der Staat die Freiheit der Bürger durch Rechtsprechung und Gewaltmonopol, er garantiert vernünftige und friedliche Rechtsbeziehungen zwischen ihnen.
Allerdings hat der Liberalismus ein Janusgesicht, dessen andere Hälfte der Wirtschaftsliberalismus ist, bei dem es im wesentlichen um die freie Marktwirtschaft im Anschluss an Adam Smith geht. Dieser sprach von einer Gemeinwohlorientierung der Marktwirtschaft und erschuf damit das bekannte Sinnbild der „unsichtbaren Hand“;. Lassen wir einmal dahingestellt, ob diese recht simplen jahrhundertealten Modellvorstellungen damals wie heute zutreffend waren oder sind. Bemerkenswert ist dabei, dass der liberale Verfassungsstaat nicht zwingend mit der Marktwirtschaft verbunden sein muss. Sicher bietet er sehr günstige Bedingungen für sie (Rechtssicherheit, Gewährleistung von Freiheiten u.a.), was aber nicht zwingend heißt, dass sich die Bürger nicht auch auf eine andere Wirtschaftsordnung einigen könnten. Die Marktwirtschaft ist nicht einmal in der Lage, den Verfassungsstaat zu legitimieren und könnte für sich genommen auch prima mit autoritären Staatsformen (siehe China) koexistieren. Historisch hat sich aber die bekannte Verbindung als recht bestandsfähig erwiesen. Der Staat muss also auch regulierend in das Treiben seiner potentiell gerechtigkeitsneutral wirtschaftenden Bürger eingreifen, um verfassungsmäßige und gemeinwohlorientierte Forderungen zu bedienen.
Was aber selbst innerhalb der liberalen Denkweise oft übersehen wird, ist zum einen die Tatsache, dass der Markt als tauschbasierter und von Ungleichgewichten sowie irrationalen Entscheidungen angetriebener Allokationsmechanismus kaum in der Lage ist, Güterverteilungen zu erzeugen, die höheren (!) ethischen Ansprüchen genügen (also mehr als simple Sprüche wie: „Wer nicht schafft, soll auch nicht essen“ oder „Wer für sein Studium zahlt, weiß es besser zu schätzen“). Neben weiteren Unzulänglichkeiten (Selbstzerstörung des Marktförmigen durch Monopolbildung, Unfähigkeit zur Befriedigung langfristiger Gemeinschaftsbedürfnisse u.a.) neigt eine Marktwirtschaft zum anderen zur Begünstigung von nicht mehr am Gemeinwohl orientierten utilitaristischen Individualinteressen, die Adam Smith törichter Weise nicht im Sinn hatte und mit deren Herkunft sich Anthropologen befassen mögen. Die von ihm postulierte Gemeinwohlorientierung der Marktwirtschaft wird von besitzindividualistischen Privatinteressen genutzt, um ihre gemeinschädliche Wirkung zu verschleiern, bzw. um derartige Einzelinteressen als Kollektivinteressen auszugeben. Dieser semantische Kniff dürfte uns aus Politiker-, Funktionärs- und Managerreden sattsam bekannt sein. Der liberale Verfassungsstaat gerät dabei allerdings zunehmend in die Krise, da das Handeln bestimmter ökonomischer Gesellschaftssegmente in immer größeren und deutlicheren Widerspruch zu seiner Verfassungsbasis gerät. Mit dem Ausschluss immer größerer Bevölkerungskreise aus dem politischen und gesellschaftlichen Geschehen zerbröselt das verfassungsgebende Vernunftgesetz, an dessen Stelle mehr und mehr eine Ideologie tritt, die auch die Benachteiligten von der Richtigkeit der nunmehr schiefen Verhältnisse überzeugen soll. Ohne übertreiben zu wollen, dürfte genau das den aktuellen Zustand nicht nur unseres Gemeinwesens beschreiben.
Die liberale Gesellschaftstheorie scheint also in sich widersprüchlich zu sein und dazu von sehr simplen Postulaten und Thesen auszugehen, die der komplexen Realität fortgeschrittener kapitalistischer Gesellschaften nicht gerecht werden können. Das hängt u.a. damit zusammen, dass a) eine die Annahme einer strikten Trennung von Staat und Gesellschaft nicht tragbar und analytisch auch kaum durchführbar ist, und b) das strukturelle Element der Macht / Herrschaft kaum Beachtung findet.
Wo also fängt der Staat an und wo hört er auf? Reduziert er sich bloß auf den politisch-administrativen Apparat oder schließt er korporative Akteure oder das personelle Umfeld parlamentarischer Gremien ein? Können Staat und Gesellschaft schlüssig getrennt werden, wenn Herr Schily als Innenminister Anteilseigner eines Sicherheitsunternehmens ist oder ein CDU-Abgeordneter BDI-Funktionär? Wo bleibt die Trennung, wenn EU-Recht mit Anwendungsvorrang vor nationalem Recht aus Quellen stammt, die Ziel so massiver wie erfolgreicher Lobbyarbeit sind? Und zu guter Letzt, wo bleibt die Trennung, wenn Politiken „alternativlos“ sogenannten „Sachzwängen“ hinterhereilen, die von einer in keiner Weise demokratisch legitimierten globalisierten Ökonomie diktiert werden?
Um in diesem Zusammenhang auf den „Überwachungsstaat“ zu sprechen zu kommen, so scheint es zunächst widersprüchlich zu sein, dass der Staat nach vielen Jahren der von Eliten geforderten Verschlankung und in einem Klima des relativen Machtverlustes mit besonderer Inbrunst repressive Instrumente entwickelt. Die Repression richtet sich systematisch gegen Menschen, die nicht dem Besitzbürgertum zuzurechnen sind und die vom „Staat“ zunehmend als potentielle Feinde begriffen werden, indem sich etwa die polizeiliche Arbeit immer mehr auf den Vorfeldbereich potenzieller Vergehen konzentriert und so ein Klima des Generalverdachts schafft. Sie richten sich dagegen kaum (oder wenn, dann nur in marginaler Weise oder vereinzelt) gegen jene Kräfte und Körperschaften, die den liberalen Verfassungsstaat substanziell gefährden. Wenn dieser multinationale Konzerne dann noch mit Steuererleichterungen beschenkt, kratzt sich die liberale Gesellschaftstheorie hilflos am Kopf. Nicht zu vergessen, dass ein wesentlicher Teil von Überwachung und indirekter Repression durch die ökonomischen Gesellschaftssegmente (Bürger im liberalen Sinne) selbst geschaffen wird. Die Beispiele hierfür sind zahllos und reichen von der allgegenwärtigen Videoüberwachung über gigantische Datensammlungen durch die Wirtschaft bis hin zur RFID-Technologie oder der simplen Tatsache, dass die Veröffentlichung eines kritischen Textes (wie etwa diesem) im Internet dazu führen kann, Probleme bei der Jobsuche zu bekommen.
Hilfreicher wäre also ein anderer Staatsbegriff, der den Staat nicht als ein über Volksherrschaft o.ä. legitimiertes Institutionengefüge mit nach innen gerichtetem Gewaltmonopol und nach außen gerichteter Souveränität begreift. Vielmehr gilt es, a) strukturelle Abhängigkeiten des Staats von gesellschaftlichen Machtinteressen und sozialen Beziehungen herauszustellen, sowie b) die gewaltförmige Stabilisierung konflikthafter Gesellschaftszusammenhänge zu thematisieren. Punkt b) weist auf den „Überwachungsstaat“ hin, der in einer Zeit der rasant wachsenden sozialen Ungleichheit immer weitere repressive Mittel einsetzen muss, um die Gesellschaft im Sinne von Punkt a) zu befrieden. Strukturelle Abhängigkeit bedeutet, dass der Staat kein unabhängiges und von der Gesellschaft getrenntes Konstrukt ist, sondern eher ein Kristallisationspunkt unterschiedlicher / antagonistischer Interessen, die unter der Obhut hegemonialer Partikularinteressen reguliert werden. „Obhut“ bedeutet dabei nicht, dass diese Hegemonialinteressen freien Zugang zu den physischen Gewaltmitteln des Staates hätten, da andernfalls das Risiko eines Bürgerkriegs drohen würde. Die komplexe Struktur des Staates richtet sich also auf eine hegemonial geleitete Regulation divergierender Interessen unter gleichzeitiger Besonderung des physischen Gewaltmonopols von allen Interessenträgern. Hegemoniale Interessen werden schließlich im System der gesellschaftlichen Institutionen (Verbände, Bildungseinrichtungen, Vereine, Kirchen, Tanzschulen und Kaffeekränzchen) ideologisch und diskursiv stabilisiert, weil eine repressive Durchsetzung auf Dauer labil wird.
Gramsci spricht daher von einem erweiterten Staat, der außer dem repressiven Kern (organisierte physische Gewalt, repressiver „Überwachungsstaat“ etc.) auch eine Reiche von massenintegrativen / ideologischen Staatsapparaten beinhaltet. Mit dieser Staatsvorstellung im Hinterkopf käme man in der Diskussion schon ein wenig weiter. Besser wäre natürlich, sie nebenbei oder gar direkt zu diskutieren, denn sie bildet den Dreh- und Angelpunkt für Begriffe wie „Bürgerfreiheit“ oder „Überwachungsstaat“.