Eriksons großes Anliegen war die versöhnende Kombination der psychoanalytischen Theorie Freuds mit einer psychosozialen Entwicklungstheorie, die den neueren psychologischen Erkenntnissen Rechnung tragen sollte. Dabei widersetzte er sich dem Trend, den Menschen disziplinspezifisch zu zergliedern und betonte vielmehr die Identität als unverwechselbare Ganzheit des Subjekts.
Erikson prägte den Begriff der Ich-Identiät, womit die Ebene des subjektiven Empfindens des Menschen angesprochen wird, eine ganze und zusammenhängende Persönlichkeit zu sein, die sich von anderen unterscheidet. Dieses Gefühl schwingt im Denken, Erleben und Handeln mit und erlangt in aller Regel erst dann einen bewusstseinsrelevanten Status, wenn der Mensch in eine krisenhafte Situation gerät. Identitätsbewusstsein tritt so als emotionale Qualität in besonderen Momenten der Störung des psychischen Gleichgewichts ans Licht. Identität kann nicht aus dem Individuum allein erklärt werden, sondern ist kulturell und sozial konstituiert.
Im Gegensatz zu Freud, der die Ausbildung von Persönlichkeit und Identität im frühen Kindesalter verortet hatte, ging Erikson von einer lebenslangen Entwicklung aus, in der deren Verlauf sich die Identität von Lebensphase zu Lebensphase, Entwicklungsaufgabe zu Entwicklungsaufgabe, ausbildet, bis sie schließlich im hohen Lebensalter – eine „gesunde“ Entwicklung vorausgesetzt – akzeptiert und endgültig angenommen wird. Erikson konzipierte „Entwicklung“ als eine phasenhafte Abfolge von aufeinander aufbauenden Krisen oder Entwicklungsaufgaben, die vom Subjekt bewältigt werden müssen und zu einer nachhaltigen Bewältigung dieser Aufgaben führen.
In jeder Entwicklungsphase bildet sich zudem eine Ich-Qualität aus, die sich als entwicklungsspezifische Grundhaltung im Falle einer positiven Entwicklung in Richtung psychosozialer Gesundheit, oder im Falle einer negativen Entwicklung in Richtung einer psychosozialen Störung neigt. Jede Phase wird darüber hinaus mit der Ausprägung einer spezifischen „Tugend“ abgeschlossen, die sich als eine Grundstärke beschreiben lässt, mit der sich das Individuum durch sein Leben bewegt.
Kommt die individuelle Entwicklung mit den Möglichkeiten und Herausforderungen des sozialen Umwelt in ein harmonisches Equilibrium, können Grundhaltungen und Tugenden in das Ich integriert werden, was gleichzeitig eine Voraussetzung für die Lösung der Entwicklungsaufgaben der nachfolgenden Phasen ist. Es entsteht ein phasentypisches Gefühl von Ich-Bewusstsein / Identität, und damit eine relative psychosoziale Gesundheit. Im gegenteiligen Fall bleibt das Ich schwach und geringer ausgeprägt (relative psychosoziale Störung).
Das epigenetische Phasenmodell
1. Säuglingsalter
Zentrale Krise: Ur-Vertrauen vs. Misstrauen
Misstrauen / Resignation bei Ungewissheit über Bedürfnisbefriedigung
Ur-Vertrauen bei regelmäßiger, liebevoller und zuverlässiger Zuwendung
Antwort: „Ich bin, was man mir gibt“
Tugend: Hoffnung
2. Kleinkindalter
Zentrale Krise: Autonomie vs. Schuld und Zweifel
Schuld / Zweifel bei Missverhältnis zwischen Umweltanforderungen und realem Können
Autonomie bei Übereinstimmung zwischen beidem
Antwort: „Ich bin, was ich will“
Tugend: Wille
3. Kindergarten- / Spielalter
Zentrale Krise: Initiative vs. Schuldgefühl
Konflikt zwischen Bedürfnissen und kulturell zugelassenen Befriedigungen
Antwort: „Ich bin, was ich mir vorstellen kann“
Tugend: Zielstrebigkeit
4. Schulalter
Zentrale Krise: Werksinn vs. Minderwertigkeitsgefühl
Werksinn nach der Erfahrung, etwas zu können; Minderwertigkeitsgefühl beim Gegenteil.
Antwort: „Ich bin, was ich kann“
Tugend: Treue
5. Adoleszenz
Zentrale Krise: Identität vs. Identitäsdiffusion
Gelingen der (experimentell herbeigeführten) Selbstdefinition ist Basis der späteren Identität, andernfalls kann Identität nicht festgelegt werden.
Antwort: „Ich bin, was ich bin“
Tugend: Treue
6. frühes Erwachsenenalter
Zentrale Krise: Intimität und Distanzierung vs. Isolation
Gelingt der Aufbau einer intakten partnerschaftlichen Beziehung, entsteht das Gefühl der Intimität, andernfalls das Gefühl der Isolierung.
Antwort: „Ich bin, was ich dem anderen gebe und in ihm finde“
Tugend: Liebe
7. Erwachsenenalter
Zentrale Krise: Generativität vs. Selbstabsorption
Die Bereitschaft, der Gesellschaft etwas von sich zu hinterlassen (Nachkommen), führt zu positiver Entwicklung. Im anderen Falle scheut das Subjet die Verantwortung, womit eine Stagnation eintritt, die mit Regression verbunden sein kann.
Antwort: „Ich bin, was ich mit einem anderen zusammen aufbaue und erhalte“
Tugend: Fürsorge
8. reifes Erwachsenenalter
Zentrale Krise: Integrität vs. Verzweiflung und Ekel
Der Blick zurück auf die vollbrachte Lebensleistung sowie den Lebensweg einschließlich der bewältigten Krisen und Entwicklungsaufgaben mündet im besten Falle im Gefühl der Integrität. Gelingt dies nicht, landet das Individuum in einem Zustand der Verzweiflung, zumal am Lebensende das Vorangegangene nicht mehr korrigiert werden kann.
Antwort: „Ich bin, was ich mir angeeignet habe“
Tugend: Akzeptanz