Woher kommt die Faszination? Kurzer Abriss der Allgemeinen Systemtheorie

Von kaum einer sozialwissenschaftlichen Theorie geht so viel Faszination aus, wie von der Systemtheorie. Dies mag mit ihrem extrem hohen Abstraktionsgrad zusammenhängen und sicher auch mit ihrem selbstbewusst vorgetragenen Anspruch auf Universalität. Sie liefert eine grandiose theoretische Basis für das Verständnis von der Funktionsweise sozialer und menschlicher Systeme (die wiederum aus psychischen und physischen Subsystemen bestehen) – und damit auch für die systemische Pädagogik sowie Psychologie. Nachfolgend ein eher stichwortartig verkürzter Abriss der Allgemeinen Systemtheorie – ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

Inhalt:

 

  1. Grundlagen
  • Entwicklungsschritte der Theorie sozialer Systeme
  • Die Welt als Problem
  • Komplexität (sachliche, soziale, zeitliche, operative und kognitive Komplexität)
  • Kontingenz
  • Konflikte
  • Über den Sinn-Begriff (Sinn als Ordnungsform der erfahrbaren Welt)
  • Die Rekonstruktion der Wirklichkeit durch symbolische Systeme
  • Das doppelte Verhältnis von Sinn und System

2. Das Grenzregime: Das System und seine relevanten Umwelten

  • Was ist ein System?
  • Relevante Umwelten
  • Das soziale System und seine Mitglieder / Elemente (Personen)
  • Grenzprobleme
  • Zum Sinn der Grenzziehung: Autopoiesis, Autonomie und Abstimmung
  • Autopoiesis
  • Psychische Systeme und operative Geschlossenheit
  • Soziale Systeme und operative Geschlossenheit
  • Autopoietisches System und Autonomie

3. Vom Quasi-System zum System: Der evolutionäre Blick auf soziale Systeme

  • Quasi-Systeme
  • Strukturell-funktionale Systemtheorie nach Talcott Parsons
  • Das systemtheoretische Gruppenkonzept von Mills
  • Systemfunktionen
  • Was also kennzeichnet ein System?
  • Exkurs: Kybernetik erster und zweiter Ordnung
  • Exkurs: Beobachten

4. Bewusstsein, Intersubjektivität und Reflexion

  • Bewusstsein, Integration, Steuerung, Emergenz
  • Zur Evolution sozialer Systeme

 

  1. Grundlagen

Die Allgemeine Systemtheorie (im Folgenden „Systemtheorie“ genannt), insbesondere in ihrer Formulierung durch Niklas Luhmann, stellt einen Wendepunkt in der Sozialwissenschaft dar.

1) Fachspezifische Universalität

  • Die Systemtheorie erhebt den Anspruch, auf alle sozialwissenschaftlichen Fragestellungen anwendbar zu sein.
  • Theorien sind Instrumente der Organisation eines kohärenten Erklärungsmodells der beobachteten Welt.
  • Die systemtheoretische Denkweise stellt für alle Bereiche der soziologischen Forschung einen einheitlichen Denkansatz bereit.

2) Interdisziplinäre Universalität

  • Die allgemeine Systemtheorie ist als interdisziplinäre integrierte Wissenschaft entstanden. es gibt große Ähnlichkeiten der Systemprobleme in unterschiedlichen Wissenschaften.
  • Die Systemtheorie ist Teil eines umfassenden Erkenntnisprogramms mit neuen Anknüpfungsmöglichkeiten zu Nachbarwissenschaften.

3) Universalität des Problems der Komplexität

  • Soziale Beziehungen in modernen Gesellschaften sind hochkomplex und lassen sich kaum auf einfache Kategorien und Gesetzmäßigkeiten reduzieren – was oft eine Schwachstelle der Sozialwissenschaften darstellt. Im Unterschied zu klassischen Naturwissenschaften musste sich die Soziologie immer wieder dieser enormen Komplexität stellen.
  • Die Qualität von Wissenschaft bemisst sich mithin auch daran, inwieweit sie der Komplexität ihres
  • Erkenntnisgegenstands Rechnung zu tragen vermag. 

 

 

Entwicklungsschritte der Theorie sozialer Systeme

Vorläufer und Vorformen der Allgemeinen Systemtheorie

1)  Strukturell-funktionale Systemtheorie (Talcott Parsons)

  • Der Strukturbegriff ist dem Funktionsbegriff vorgeordnet. Angenommen wird, dass alle sozialen Systeme bestimmte Strukturen aufweisen.
  • Forschungsbestimmende Frage: Welche funktionalen Leistungen müssen vom System erbracht werden, damit es in seinen gegebenen Strukturen erhalten bleibt?

 – Kritik: Strukturen werden als gegeben vorausgesetzt und nicht selbst auf ihre Funktion hin befragt. Es stellt sich also die Frage, warum Systeme diese spezifischen Strukturen aufweisen.

2) System-funktionaler Ansatz (Walter Buckley, James Miller)

  • Soziale Systeme sind komplexe, anpassungsfähige und zielgerichtete Gesamtheiten, die gegenüber lebenden Systemen bei veränderten Umweltbedingungen ihre Struktur ändern oder ausbauen können, sollten Leistungs- und Überlebensfähigkeit dies erfordern.
  • Frage: Welche strukturellen Anpassungsleistungen müssen Systeme unter bestimmten Umweltbedingungen leisten, um ihre Systemfunktion erfüllen zu können.
  • Die systemfunktionale Bedeutung der Strukturen liegt in der Stabilisierung von Kommunikations- und Informationsverarbeitungsprozessen. 
  • Kritik: Die Konzentration auf interne Systemprozesse berücksichtigt zwar die Umweltbedingtheit sozialer Systeme. Mittelpunkt bleibt aber immer noch die Analyse der Erhaltung eines bestimmten Systems unter variablen Umweltbedingungen.

3) Funktional-struktureller Ansatz (Niklas Luhmann)

  • Dieser Ansatz radikalisiert die funktionale Analyse zur Frage nach Systemen überhaupt. Die Systemtheorie wird zur System-Umwelt-Theorie, weil die Funktion der Systembildung nur rekonstruierbar ist, wenn dir Bezugspunkt der Analyse außerhalb des Systems liegt.
  • Sinn der Systembildung: Ausgegrenzte Bereiche werden geschaffen, die es ermöglichen, die überwältigende Komplexität (die die menschliche Aufnahmefähigkeit bei weitem übersteigt) der Welt in spezifischer Weise zu erfassen und zu verarbeiten. Systeme bilden ein sinnhaftes, symbolisch vermitteltes Regulativ zwischen sich und der Umwelt. 
  • Die Umwelt wird nicht nur als bedingender, sondern als konstituierender Faktor erachtet. Systeme generieren Sinn nur durch die Abgrenzung von der Umwelt.
  • Nutzen des Ansatzes: Erhöhung der analytischen Kapazität, jedoch bei erhöhten Folgekosten durch die Eigenkomplexität der Theorie.

4) Ansatz der Theorie selbstreferentieller Systeme

  • Komplexe Systeme stellen für sich selbst ein Problem dar und müssen sich folglich auch mit sich selbst beschäftigen.
  • Theorie der Autopoiesis (zuerst formuliert von Maturana und Valera): Komplexe Systeme reproduzieren sich in ihrer Einheit, ihren Strukturen und Elementen kontinuierlich und in einem operativen Prozess mit Hilfe der Elemente, aus denen sie bestehen.
  • Soziale Systeme können generative Mechanismen bilden, unter deren Zuhilfenahme sie sich selbst reproduzieren und evolutionär verändern. Es gibt generative Mechanismen und integrative Instanzen. Diese determinieren aber keine bestimmte Evolutionsrichtung, sondern eröffnen einen Bereich möglicher Variationen. 

 

 

Die Welt als Problem

Problembereiche der Systemtheorie:

  1. Bezeichnung gesellschaftlicher Prozesse, die die Welt für den zielorientiert handelnden Menschen ungewiss und unüberschaubar machen.
  2. Finden von evolutionär einleuchtenden Gründen für die wachsende Komplexität der Systeme.
  3. Auffinden von Steuerungsmechanismen, die mit deren Hilfe sich die hohe Komplexität besser verarbeiten lässt. 
  • Entdeckung der Komplexität: Klassische Gesetze sind auf einen mittleren Bereich zugeschnittene Vereinfachungen hochkomplexer Zusammenhänge.
  • Komplexe Prozesse sind gekennzeichnet durch Zufall, Nichtlinearität und Widersprüchlichkeit.
  • Herkömmliche wissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten werden in der Systemtheorie fallen gelassen, denn selbst-reproduktive Systeme gründen auf der Unverlässlichkeit und Ungenauigkeit ihrer Elemente.
  • Das Organisationsprinzip hochkomplexer Systeme ist die Kombination von Unordnungen sowie die Stabilisierung von Unwahrscheinlichkeiten.  

 

 

Komplexität

Komplexität ist ein zentraler Begriff der Systemtheorie. Er besagt, dass in der modernen Gesellschaft aufgrund spezifischer Entwicklungen unüberschaubare und vielschichtige Verhältnisse entstanden sind (z.B. gesellschaftliche Arbeitsteilung mit Beginn in der frühindustriellen Warenproduktion).

Komplexität entsteht aber auch durch biologisch-evolutionäre Entwicklung beim Menschen selbst sowie dessen Einbettung in soziale Systeme (Mensch als psychisches und physisches System).

Funktionale Differenzierung: Das Ganze besteht nicht nur aus einer Vielzahl gleicher Einheiten (segmentale Differenzierung), sondern aus einer Vielzahl unterschiedlicher, spezialisierter Teile, die von einander abhängen.

Es gibt einen Zusammenhang zwischen einer fortschreitenden funktionalen Differenzierung und der Zunahme wechselseitiger Abhängigkeiten zwischen ausdifferenzierten Teilen. 

Die Komplexität nimmt mit der Entwicklung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und funktionalen Differenzierung zu.

Komplexität bezeichnet den Grad der Vielschichtigkeit, Vernetzung und Folgelastigkeit eines Entscheidungsfeldes (unter Einbeziehung der jeweiligen Umwelten in den Begriff).

 

Es können verschiedene Arten der Komplexität identifiziert werden:

Sachliche Komplexität

  • Es gint eine Vielfalt von Entitäten, die aufeinander wirken. Die sachliche Komplexität nimmt zu, wenn Zahl und Dichte von Einheiten in einem bestimmten raumzeitlichen Abschnitt steigen und wenn diese Einheiten aufeinander einwirken.

Soziale Komplexität:

  • Hier liegt der Fokus auf der aus der Zunahme von Anzahl und Dichte menschlicher Kontakte und Handlungszusammenhänge erwachsenden Eigendynamik.
  • Mehrere Personen entwickeln in einem Interaktionszusammenhang Gewohnheiten, Regeln und gemeinsame Orientierungen zur Erleichterung der Kommunikation. 
  • Durch die Ausdifferenzierung von Rollen kommt es zu einer Lageveränderung, interne Arbeitsteilung entsteht. Anfallende Probleme werden funktional ausdifferenzierten Rollenträgern überantwortet und betreffen nicht mehr alle Mitglieder in gleicher Weise. 
  • Allerdings schafft die funktionale Differenzierung neue Probleme, denn es müssen Kriterien zur Arbeitsteilung entwickelt werden. Auch entstehen neue Interdependenzen durch funktionale Abhängigkeiten; die interne Komplexität des Systems nimmt zu.
  • Quasi-Systeme (bestehen nur aus elementaren Interaktionen der Mitglieder, wesentliche Systemeigenschaften sind nicht ausgeprägt) steigen durch die Ausbildung von Rollen evolutionär auf.
  • Systeme lösen Problem der sozialen Komplexität auf dem Wege der funktionalen Binnendifferenzierung.

Zeitliche Komplexität:

  • Das Quasi-System lebt zunächst in der Gegenwart, eine gemeinsame Vergangenheit oder antizipierbare Zukunft existiert noch nicht. Mit der Konstituierung des Quasi-Systems beginnt jedoch dessen eigene Geschichte.
  • Entwickeln sich soziale Äquivalente zum psychischen Gedächtnis, entstehen aus abgelagerten Erfahrungen und routinisierten Erwartungen Konzepte, Symbole und systeminterne Konzepte der Außenwelt. Damit kann das System in der Zeitdimension an seine Umwelten angekoppelt werden.
  • Futurität, also die Fähigkeit, Handlungen an antizipierten Gegenwarte auszurichten, ist ein Kennzeichen hochentwickelter Systeme. 
  • Allerdings wird so eine Fülle von Möglichkeiten der Verknüpfung von Vergangenheit und Zukunft in einer immer vielschichtigeren Gegenwart geschaffen, was zeitlichen Diskontinuitäten und Synchronisierungsproblemen Vorschub leisten und damit letztlich die zeitliche Komplexität erhöht.
  • Im Laufe ihrer Entwicklung lösen Systeme das Problem der erhöhten zeitlichen Komplexität durch die Differenzierung von Strukturen und Prozessen.

Operative Komplexität

  • Quasi-Systeme verfügen nicht über die Fähigkeit, eigenständig Ziele zu entwickeln oder sich neue Ziele zu setzen. Sie sind operativ limitiert.
  • Als Voraussetzung für operative Komplexität müssen folgende Bedingungen für die selbständige Entwicklung von Zielen vorliegen: funktionale Binnendifferenzierung, adäguate Außenweltmodelle, interne Zeitmanipulation und die Zulassung inkongruenter Perspektiven.
  • In psychischen Systemen beschreibt operative Komplexität jene handlungsleitenden Konzepte, die zwischen Stimulus und Response liegen.
  • In sozialen Systemen sind es dagegen die handlungsleitenden und prozesssteuernden symbolischen Konstrukte, die zwischen Perzeptionen und Assimilation und Operationen liegen.
  • Dies ermöglicht Handeln. Handeln ist eine Verhaltensqualität, die sich elementar von einem einfachen Reiz-Reaktions-Mechanismus  (Verhalten) unterscheidet, da es sich um eine Durchbrechung des  unmittelbaren Reaktionsdrucks auf Umweltreize handelt. 
  • Der Übergang vom Verhalten zum Handeln beschreibt den Übergang vom Quasi-System zum System.
  • Jedoch kann dies für das System wiederum zum Problem werden, sobald es zu viele Optionen produziert. 

Kognitive Komplexität

  • Dies betrifft die menschliche Informationsverarbeitung, Denkprozesse,  Lernfähigkeit, Gedächtnis, Kreativität und Problemlösungskompetenz.
  • Auf der sozietalen Ebene geht es um gesellschaftliche / kollektive Informationsverarbeitung, Kreativität und Lernfähigkeit.  
  • Gesellschaften müssen sich als handlungsfähig und aktiv zielorientiert begreifen, um nicht an einer andernfalls ungeregelten operativen Komplexität zu scheitern.
  • Kognitive Komplexität ist eine emergente Qualität, die nicht bloß die Summe des Expertenwissens ist. 

 

 

Kontingenz

Der Begriff stammt aus der scholastischen Philosophie (mittelalterliche Denktradition, die christliche Glaubensoffenbarung rational zu begründen und in ein theoretisches System zu übersetzen). Mit Kontingenz wird die Möglichkeit bezeichnet, dass etwas ist oder auch nicht ist, oder dass es grundsätzlich anders ist, als es ist.

Parsons: Das instinktgesteuerte Tier befindet sich in einer einseitig determinierten Tier-Umwelt-Beziehung. Der Reaktionsspielraum des Tieres ist nicht offen, nicht variabel, nicht kontingent. In sozialen Beziehungen zwischen Menschen besteht demgegenüber die Möglichkeit der variablen, offenen Handlung – also der Kontingenz. Auf eine kontingente Handlung folgt eine kontingente Reaktion, man spricht von doppelter Kontingenz.

Um Kontingenz von Handlungsalternativen auf ein im Alltag praktikables Maß zu reduzieren, haben Menschen spezielle Mechanismen entwickelt, wie etwa religiöse Deutungssysteme, moralische Werteordnungen, Institutionen, Normen etc. Allerdings wurde durch die Aufklärung und gegenwärtig die moderne Wissenschaft die Mange an Handlungsalternativen wieder stark erhöht. 

Nicht nur individuelle Interaktionen haben Kontingenzspielräume, sondern auch soziale Systeme und Gesellschaften.

Die Entwicklung ganzer Gesellschaften ist nicht mehr naturwüchsig, sondern wird von Entscheidungen gesteuert, für die es säkulare und rationale Erklärungen gibt. Durch die gestiegene Kontingenz, durch die Menge des Machbaren, kommt die Frage auf, was konkret gemacht wird und wohin die Entwicklung gehen soll. Hier müssen also Begründungen gefunden werden – die Zunahme an Kontingenz erhöht gleichzeitig auch das Konflikpotential.

Der Zusammenhang zwischen Kontingenz und Komplexität:

  • Komplexität charakterisiert ein Entscheidungsfeld, in dem ein System auf die Anforderungen der Umwelt reagieren muss. Komplexität ist eine System-Umwelt-Relation, der Beziehungs- und Möglichkeitsraum wird zum Problem.
  • Kontingenz bezieht sich auf die dem System zur Verfügung stehenden Handlungsalternativen. Kontingenz im Sinne eines Freiheitsgrades an Handlungsmöglichkeiten ist jedoch eine Eigenschaft des Systems als solchem. 

Kontingenz wird zumeist als Erwartungssicherheit wahrgenommen, da nicht bekannt ist, welche der Handlungsalternativen vom System gewählt wird.

Zusammenspiel und Vernetzung der Kontingenzen verschiedener Bezugssysteme konstituieren die Komplexität für das fokale System (das jeweils im Fokus der Beobachtung stehende System). 

Um auf die Umweltkomplexität angemessen reagieren zu können, muss das fokale System einen entsprechenden Grad an Eigenkomplexität besitzen. Diese wiederum erhöht die Kontingenz, so dass es eine evolutionäre Entwicklung hin zu immer höherer Komplexität und Kontingenz gibt. 

 

 

Konflikte

Komplexität erzeugt aufgrund überschüssiger Möglichkeiten der Umwelt ein erhöhtes Konfliktpotential. Die überschüssigen Möglichkeiten müssen zur Aufrechterhaltung der Handlungsfähigkeit des Systems reduziert werden. Der Raum der Umweltereignisse muss auf ein vom System bearbeitbares Maß verringert werden. 

Komplexität erzwingt die Aggregation von Umweltdaten sowie die Ausfilterung von Nicht-Relevantem. Konflikte entstehen dabei auf der Input-Seite über Fragen der Relevanz.

  • Die Verringerung der Umweltkomplexität wird auf der Input-Seite durch die begrenzte Informationsverarbeitsungskapazität der Perzeptoren erzwungen (Konflikt über Relevanzen)  
  • Die Selektion der Umweltdaten nach Relevanzen erfordert eine Entscheidung innerhalb des differenzierten Systems hinsichtlich jener differenzierten Teile, die über die Relevanz entscheiden. 

Kontingenz erzeugt systeminterne Konflikte, da Handlungsalternativen im Hinblick auf bestimmte Umweltbedingungen bewertet und entschieden werden müssen. Auf Grundlage der vom System erarbeiteten Möglichkeiten werden Wirklichkeiten in der Umwelt produziert. Kontingenz erzeugt Konflikte auf der Output-Seite hinsichtlich der Frage, welcher konkreten Handlungsmöglichkeit der Vorzug zu geben ist. 

  • Die Knappheit der Ressourcen erfordert eine Auswahl der Handlungsalternativen (Strategiekonflikt).
  • Die Selektion der Handlungsoptionen unter der Bedingung der Knappheit erfordert im differenzierten System eine Entscheidung, welches Element über die Ressourcenverendung bestimmt.  

 

 

Über den Sinn-Begriff (Sinn als Ordnungsform der erfahrbaren Welt)

Triviales System (Tier):

  • Sinnesorgane (Perzeptoren) selegieren Schlüsselreize aus der komplexen Umwelt heraus und führen sie dem Reiz-Reaktions-Mechanismus zu, der ein ein bestimmtes Verhalten auswählt.
  • Der Systemzweck ist das Überleben sowie die dazu geeignete Informationsaufnahme.

Nicht-triviales System (psychisches und soziales System):

  • Perzeptoren selegieren auch hier nur bestimmte Informationen aus der Umwelt. Diese Daten führen aber nicht unmittelbar zu einer Reaktion (außer in bestimmten Einzelfällen), sondern durchlaufen komplexe Prozesse der kognitiven Verarbeitung oder Aufbereitung. 
  • Die Daten werden nach systemspezifischen Gesichtspunkten aggregiert, symbolisch repräsentiert und auch manipuliert. Parallel zum Grad ihrer Binnendifferenzierung und der Fähigkeit zum Aufbau innerer Modelle der Außenwelt können die Daten mit systemeigenen Daten, Beziehungen und Möglichkeiten verknüpft werden, so dass es zu einer Komplexitätsreduktion kommen kann. 
  • Komplexität kann aber nicht nur reduziert, sondern auch produziert werden, etwa durch Kreativität, Phantasie etc.
  • Diese neue Komplexität muss in einem zweiten Selektionsprozess wieder auf machbare Handlungsoptionen reduziert werden.
  • Das Auswahlkriterium bei der zweiten Redaktion ist Sinn. Kognitive und motivationale Prozesse haben also die Überlebensformel trivialer Systeme abgelöst, wobei Sinn zum Steuerungskriterium komplexer Systeme avanciert. 

Biologisch nicht mehr erklärbare Phänomene weisen auf den Stellenwert des Sinns für das Handeln sozialer und personaler Systeme hin. Bereits Berger / Luckmann (Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit; Frankfurt am Main, 1980) dass symbolische Sinnsysteme eine ordnende Funktion aufweisen.

Die Systemgrenze ist der Zusammenhang selektiver Mechanismen, die zunächst die Kriterien für eine Differenzierung von System und Umwelt bestimmen, nach denen zwischen zugehörigen und nicht-zugehörigen Interaktionen unterschieden wird.

Soziale Systeme bestehen nicht aus Menschen, sondern aus Kommunikationen. Grundbedingung eines systemischen Zusammenhangs von Interaktionen ist eine gemeinsame, sinnhafte Orientierung wechselseitig verstehbaren Handelns. 

Sinn beinhaltet demnach eine selektive Beziehung zwischen System und Umwelt. Sinn bezeichnet  allgemein eine Ordnungsform sozialen Handelns.

Diese Sinnbezeichnung ist allerdings zu allgemein, um die Selektionsleistungen an der Systemgrenze zu beschreiben. So wurden weiterführende Konzepte entwickelt, die Handlungszusammenhänge strukturieren und Interaktionsprozesse steuern (z.B. kognitive Strukturen, Image, Rolle, symbolische Codes).

Ein Präferenzsystem ist ein Konzept, das die Formel „Sinn“ konkretisiert und zugleich die Vielfalt symbolischer Strukturen in einen systemtheoretischen Zusammenhang bringt. Sein Kern ist das normative System eines sozialen Systems. 

  • Es bezeichnet den Zusammenhang sinnhaft-symbolisch konstituierter regulativer Mechanismen, die Transaktionen zwischen System und Umwelt steuern. Im System besteht der Bedarf an Selektion, der durch die Informations- und Problemverarbeitungskapazität des Systems bestimmt wird.
  • Erst die Leistung spezifischer Selektionen aus den überkomplexen Möglichkeiten der Umwelt erzeugt die Differenz zwischen Umwelt und System.
  • Die Selektionsleistung ist funktional bezogen auf die Ausbildung und den Erhalt einer bestimmten Systemidentität angesichts der Zwänge und Zufälle der Umwelt.
  • Interne Außenmodelle sind Teile des Präferenzsystems. Art und Menge der vom System aufgenommenen Umweltinformationen und ihre Prozessierung hängen von perzeptiven, motivationalen und kognitiven Präferenzen ab, die in Symbolsystemen verankert sind („Ideologie“). 
  • Die Selektionsleistungen des Systems sind nicht gleichbedeutend mit der Komplexitätsreduktion, denn diese ist nur auf der Input-Seite der System-Umweit-Beziehungen relevant. Die Verarbeitung aufgenommener Informationen kann aber ihrerseits zu hochkomplexen Resultaten führen, die gespeichert oder in die Umwelt abgegeben werden können.
  • Das System kann durch gespeicherte Erfahrungen, Wissensbestände und weitere Ressourcen eine partielle Autonomie gegenüber der Umwelt erlangen. Diese erlaubt es ihm, die eigenen Präferenzen gegenüber den Zwängen der Umwelt weitestgehend durchzuhalten und eigene Entwürfe gegenüber den Kontingenzen der Umwelt aufrechtzuerhalten.  

 

 

Die Rekonstruktion der Wirklichkeit im System durch symbolische Systeme

Der Aufbau systemspezifischer symbolischer Systeme soll in hochkomplexen Systemen funktional und prozessual die Subjektivierung relevanter Umweltaspekte leisten. So kann eine symbolisch-kognitive Bearbeitung dieser Aspekte und auch eine Rekonstruktion der Wirklichkeit nach systeminternen Gesichtspunkten erfolgen. 

  • Soziale Interaktionen sind sinnhaft orientiert, wenn ihr Bedeutungsgehalt durch ein Repertoire verbindlicher Symbole (etwa generalisierte Interpretations- und Zurechnungsregeln) gesteuert sind.
  • Die Frage nach dem Sinn von Interaktionen bezieht sich dabei auf die Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit auf ein bestimmtes Repertoire an Symbolen. Sinnhaft konstituierte Symbole stehen für einen bestimmten Handlungszusammenhang. 

Ein Sinnzusammenhang erzeugt eine erste Orientierung zwischen Handelnden sowie zwischen diesen und der Welt. Das Rauschen der Ereignisse wird anhand einer sinnhaft gesteuerten Präferenzordnung strukturiert. Die Differenz zwischen Ego und Alter, Wir und Anderen, Innen und Außen ist Bedingung der Möglichkeit der Bildung von Systemen.

 

 

Das doppelte Verhältnis von Sinn und System

Systeme sind zum einen sinnkonstituierende zum anderen sinnerzeugende Gebilde. Sie erzeugen systemspezifischen Sinn, werden aber erst durch die Ausbildung von abgrenzbaren Sinnstrukturen hervorgebracht.

Das hängt damit zusammen, dass menschliche Informationsverarbeitung und Kommunikation zwar durch das Steuerungskriterium „Sinn“ Komplexität reduzieren und strukturieren kann, jedoch nicht endgültig. Es besteht immer die Möglichkeit, andere Möglichkeiten durch einen bloßen „Sinneswandel“ zu aktivieren, denn die Festlegung eines bestimmten Sinns bedeutet nur eine Inaktivität anderer Möglichkeiten, jedoch nicht deren endgültigen Verlust.

Luhmann bezeichnet dieses doppelte Verhältnis als Konstitution: Sinn tritt in abgrenzbaren Zusammenhängen auf, weist aber gleichzeitig über den jeweiligen Zusammenhang hinaus, macht andere Möglichkeiten vorstellbar: „Was es zu verstehen und erfassen gibt, ist jenes Verhältnis einer selektiv verdichteten Ordnung zur Offenheit anderer Möglichkeiten, und zwar als Verhältnis des Wechselseitigen-sich-Bedingenden, des Nur-zusammen-Möglichen“ (Luhmann 1971, 30).

Beispiel: Wenn für ein Balg die Selbstverständlichkeit der Einheit von Vater und Mutter, die es plötzlich als zwei eigenständige Personen erkennt, schmerzvoll zerbricht, wird dies zugleich die Bedingung der Ausbildung des eigenen Ich.

Oder: Wenn Mitglieder das überkommene Selbstverständnis der Gruppe in Frage stellen und sich abgrenzen, stellt sich die Identitätsfrage der Gruppe in besonderer Intensität, denn eine im Entstehen begriffene Ingroup-Outgroup-Beziehung organisiert neue Sinngehalte. 

 

 

2. Das Grenzregime: Das System und seine relevanten Umwelten

Der Sinn von Grenzen ist die Begrenzung von Sinn. Systeme müssen ihre Aufmerksamkeit gegenüber der komplexen Umwelt auf das systemspezifisch Sinnvolle begrenzen. 

Was ist ein System: 

Ein System ist ein zusammenhängendes netz aus zusammengehörigen Operationen, die sich von nicht-dazugehörigen Operationen abgrenzen lassen. Das Nicht-Dazugehörige wird bereits mitgedacht, die Auseinandersetzung System-Umwelt rückt ins Zentrum. 

  • Durch die Funktionen des Systems wird eine spezifische Differenz zwischen System und Umwelt erhalten.
  • Stabilität beschreibt dabei die Relation zwischen System und Umwelt.
  • Zwischen System und Umwelt herrscht ein Komplexitätsgefälle (System: Komplexität gering; Umwelt: Komplexität sehr hoch). 
  • Der Systembegriff ist relational konzipiert, als Differenz zwischen innen und außen.

 

Relevante Umwelten: 

– Nicht alle Umweltbereiche sind für ein System von Bedeutung.

  • Verschiedene Umwelten befinden sich in Bezug zu verschiedenen Systemebenen.
  • Die Mitglieder eines sozialen Systems gehören als Personen zur Umwelt eines Systems. Personen gehören aber nur in bestimmten Aspekten und zu bestimmten Anteilen einem System an (z.B. Rollen, Aufmerksamkeiten, Motive).

 

Das soziale System und seine Mitglieder / Elemente (Personen)

  • Mitglieder / Elemente des Systems bilden als Personen eine spezielle Umwelt, die Innenwelt.
  • Das soziale System umfasst Beziehungen zwischen dem System als Kollektiv (mit Kollektiveigenschaften) und seinen Mitgliedern / Elementen als Personen) Individualeigenschaften).
  • Diese Beziehungen müssen unter den Aspekten des systemrelevanten Handels abgestimmt werden (die Beziehungen der Mitglieder untereinander sowie die Beziehungen der Mitglieder zum fokalen System).

 

Grenzprobleme

  • Jedes soziale System steht mindestens zwei verschiedenen Umwelten gegenüber (Innenwelt, Außenwelt).
  • Das fokale System muss in beiden Hinsichten Abstimmungsprobleme lösen. Gelingt das nur einseitig, entstehen Verzerrungen.
  • Außenwelt: Alle Input- und Output-Beziehungen des Systems. Hier sind drei Dimensionen zu unterscheiden 1) Die Relation zu anderen (Teil-)Systemen (horizontale Außenrelation); 2) Die Beziehung zum umfassenden Gesamtsystem (vertikale Außenrelation); 3) Die Relationen zu anderen Systemen, mit denen das fokale System in einem systemischen Gesamtkontext steht (laterale Außenrelation).  

 

Zum Sinn der Grenzziehung: Autopoiesis, Autonomie und Abstimmung

Sinn der Grenze ist die Stabilisierung der Unwahrscheinlichkeit. 

Warum aber erlauben gerade Grenzen die Steigerung stabilisierbarer Unwahrscheinlichkeit?

  • Weil Grenzen definieren, was ausgeschlossen wird, definieren sie auch die Bedingungen, unter denen das Eingeschlossene auf sich selbst verwiesen ist (Selbstreferenz). 
  • Operative Geschlossenheit: Ein System definiert für sich selbst die Grenze, die es ihm erlaubt, seine eigene Identität nach intern hergestellten und prozessierten Regeln zu erzeugen und gegenüber der Umwelt aufrechtzuerhalten.

 

Autopoiesis 

Es gibt Systeme, die sich selbst reproduzieren im Sinne einer kontinuierlichen Selbsterzeugung des eigenen Systems. Autopoietische Systeme sind operativ geschlossene Systeme, sie sich selbst reproduzieren, indem sie in einer bestimmten räumlichen Einheit seine eigenen Elemente mit Hilfe derer Elemente herstellen, aus denen sie bestehen. Das System reproduziert sich selbst und seine Bestandteile aus sich selbst und seinen Bestandteilen heraus.

  • Maturana & Valera schlossen aus der Tatsache, dass Zellen oder ganze Organismen kontinuierlich ihre Bestandteile ersetzen, auf das Vorliegen einer Geschlossenheit einer Tiefenstruktur (basale Tiefenstruktur) der Selbststeuerung in Form einer homöostatischen Organisation angewiesen sind. Deren Funktion ist es, die basale Zirkularität zu erzeugen und zu erhalten.
  • So erscheinen autopoietische Systeme als in ihrem Kernbereich geschlossen. Ihre Tiefenstruktur ist unabhängig und unbeeinflussbar (operative Geschlossenheit). Kann die operative Geschlossenheit nicht aufrechterhalten werden, bricht das gesamte System zusammen. 
  • Eine Steuerung der systemspezifischen Operation von außen ist nicht möglich.
  • Bevor Systeme mit ihrer Umwelt in Kontakt treten, müssen sie ihre Kontinuierung organisieren und stabilisieren.

 

Psychische Systeme und operative Geschlossenheit

  • Das Nervensystem prozessiert Kognitionen und Emotionen, es erzeugt ein Bewusstsein und dessen Konstitution / Struktur aus der Organisation des neuronalen Systems. 
  • Das psychische System arbeitet nicht mit Abbildungen von Umweltereignissen, sondern mit Relationen neuronaler Relationen. 
  • Umweltereignisse stoßen neuronale Relationen an, ohne bestimmen oder beeinflussen zu können, was damit im neuronalen System geschieht.
  • Es können keine Gedanken von außen in ein psychisches System eingebracht oder von außen entschlüsselt werden. Für dieses gibt es weder Input noch Output, sondern nur zirkuläre Geschlossenheit. 

 

Soziale Systeme und operative Geschlossenheit

  • Soziale Systeme bestehen aus dem Prozessieren von Kommunikationen.
  • Soziale Systeme können einem eigenen Realitätsbereich zugerechnet werden, weil sie Sinn in einer spezifischen Weise und Form intern prozessieren.
  • Psychische Systeme: Hier besteht eine Verarbeitung von Sinn durch Gedanken und Vorstellungen (Kognitionen.  Soziale Systeme: Die Verarbeitung von Sinn geschieht hier auf Basis sprachlich-symbolisch vermittelter Kommunikationen.

Reine Selbstreferenzialität kann jedoch für den Erhalt und die Entwicklung der Systeme nicht als alleinige Begründung herhalten, denn diese würde – als alleiniger Impetus – zu einer Perpetuierung des Systems führen. Wichtig ist ein Mix aus Selbstreferenzialität und Fremdreferenzialität.

  • Operative Geschlossenheit ist kein Selbstzweck, sondern die Bedingung für die Möglichkeit der Offenheit.
  • Selbstreferenzielle Systeme gewinnen mithilfe der mitlaufenden Selbstreferenz (Kombination aus Selbst- und Fremdreferenzialität) Informationen, die ihnen die Selbstreproduktion ermöglichen.
  • Soziale Systeme sind dann operativ geschlossen, wenn sie semantische Strukturen ausbilden, die die in ihnen ablaufenden kommunikativen Operationen in einen selbstreferenziellen und rekursiven Modus zwingen. 

Teilsysteme müssen spezialisierte Semantiken ausbilden, die eine präzise Bezeichnung der systemspezifischen elementaren Operationen sowie eine trennscharfe Differenzierung zwischen allgemeinen gesellschaftlichen Kommunikationen und systemischen Operationen erlauben (Beispiel: Das Teilsystem der Ökonomie mit der speziellen Semantik des Geldes, die eine trennscharfe Differenzierung in ökonomisches und anderes soziales Handeln erlaubt.)

Soziale und semantische Differenzierung sind eng miteinander verbunden. 

Autopoietisches soziales System: Schreitet die die semantische Differenzierung soweit voran, dass mithilfe einer speziellen Codierung eine Sondersprache und ein eigenständiges Sprachspiel entsteht und so eine durch Selbstreferenz geschlossene Operationsweise dieser spezifischen Kommunikationen etabliert wird, wird ein soziales System autopoietisch. 

 

Autopoietisches System und Autonomie

  • Autonomie bezeichnet die Einheit der Differenz von Autopoiesis und Umweltkontakt sowie von Selbst- und Fremdreferenz.
  • Autonomie bezeichnet die Eigengesetzlichkeit des Systems, die als Autopoiesis und Tiefenstruktur konkretisiert werden kann.
  • Das System ist unabhängig von seiner Umwelt hinsichtlich der Tiefenstruktur und Selbsterneuerung und der daraus resultierenden rekursiven Operationsweise.
  • Das System ist unabhängig von seiner Umwelt in Bezug auf Konstellationen und Ereignisse, aus denen es Informationen und Bedeutungen ableiten kann, welche die Selbstbetüglichkeit seiner Operationen anreichern.  

 

 

3. Vom Quasi-System zum System: Der evolutionäre Blick auf soziale Systeme

Quasi-Systeme

  • Quasi-Systeme bestehen aus einer elementaren Interaktion von Anwesenden. Die Anwesenden können einander wechselseitig wahrnehmen. 
  • Durch die Selektivität der hergestellten Beziehungen zwischen den Anwesenden wird eine Komplexitätsdifferenz zur allgemeinen Umwelt hergestellt. 
  • Der prinzipiell kontingente Möglichkeitsraum des Erlebens und Handelns jedes Anwesenden muss auf die ebensolchen Möglichkeiten der jeweils anderen Anwesenden treffen, was Abstimmungsprozesse erforderlich macht. Eine minimale gemeinsame Orientierung muss geschaffen werden.
  • Es wird eine schwache und vorläufige Struktur ausgebildet, die durch das „Thema“ der sprachlich-symbolischen Kommunikation bestimmt wird. 
  • Die Beziehung zur Umwelt ist einfach, die Umweltkontrolle gering.
  • Die relevante Umwelt besteht aus den teilnehmenden Personen. Es entsteht soziale Kontrolle, da der Wunsch der Beteiligten, beteiligt zu bleiben, motivierend wirkt.
  • Die Teilnehmer sind sich der eigenständigen Beziehungsstrukturen noch nicht bewusst. Im Vordergrund stehen noch die Identitäten der Teilnehmer, aber keine emergente Systemqualität.  Die Handlungen der Beteiligten können nicht in vollem Maße dem System zugerechnet werden. 
  • Eine über die Mitglieder hinausgehende Systemidentität sowie die innere und äußere Identifikation der Mitglieder mit dem System bildet sich erst mit der Verdichtung vom Quasi-System zu System heraus.
  • Diese Verdichtung wird notwendig, wenn bestimmte Abstraktionsleistungen zu ordnen und zu organisieren sind. Das wird erforderlich, wenn a) sich Zweierbeziehungen zu Systemen mit mehr Personen ausweisen, b) der Zeithorizont erweitert wird und c) die Handlungsfähigkeit des Systems als System angestrebt wird. 

Hier stellt sich die Grundfrage, welche Leistungen und Funktionen ein psychisches oder soziales System erbringen muss, um eine eigene handlungs. und entwicklungsfähige Identität herzustellen.

Hierzu ist ein kleiner ideengeschichtlicher Exkurs nötig:

Strukturell-funktionale Systemtheorie nach Talcott Parsons 

Parsons betont die Fähigkeit von Systemen, sich selbst zu regulieren und sich mit ihrer Umwelt auseinanderzusetzen. Jedes entwickelte System muss dabei vier Grundfunktionen erfüllen (AGIL-Schema):

  1. Anpassung an die Umwelt (Adaption)
  2. Zielverwirklichung (Goal-Attainment)
  3. Integration (Integration)
  4. Strukturerhaltung (Latent pattern maintenance)

Anpassung (assimilierter Input) und Zielverwirklichung (Output der Operationen) weisen auf den Außenbezug des Systems hin.

Integration und Strukturerhaltung beschreiben interne Vermittlungsprozesse zwischen Input und Output. Zuerst muss eine interne Struktur stabilisiert werden, anschließend können Friktionen und Widersprüche der Struktur integrativ aufgefangen werden.

1.) Assimilation und Anpassung als einfachste Form der Auseinandersetzung mit der Umwelt, es dominiert die Umwelt sowie die Auseinandersetzung mit ihr.

2.) Systeme entwickeln später interne Strukturen und Prozesse, die die Abhängigkeit von der Umwelt sukzessive verringern.

3.) Für die Ausbildung von Identität, Subjektivität und relativer Autonomie von der Umwelt müssen psychische und soziale Systeme auf Basis formaler Operationen selbstgewählte Ziele erreichen können.

 

Das systemtheoretische Gruppenkonzept von Mills

Die Gruppe muss unterschiedliche, aufeinander aufbauende Entwicklungsstufen durchlaufen, bevor sie das Stadium einer handlungsfähigen „generativen“ Gruppe erreicht hat.

  1. Erfüllung der unmittelbaren individuellen Bedürfnisse der Mitglieder, indem diese im Gruppenrahmen Ressourcen einbringen und verteilen.
  2. Die Bedingungen der Aufrechterhaltung dieser Bedürfnisbefriedigung werden stabilisiert und in normativen Rollen strukturiert.
  3. Es folgt die Ausbildung instrumenteller Rollen und das Verfolgen von Gruppenzielen über mehrstufige Rückkopplungsprozesse. 
  4. Schließlich setzen reflexive Prozesse ein, die nicht nur die Selbstbewusstheit der Mitglieder steigern, sondern auch ein Gruppen-Bewusstsein erzeugen. Es bildet sich die Fähigkeit zur Selbstbestimmung aus und damit die Fähigkeit zu Wachstum und Entwicklung, indem auch Kontakte zu anderen Gruppen gebildet werden sowie Teilgruppen generiert werden können. Dies setzt die Ausbildung generativer Rollen voraus, deren Inhaber bewusst nach neuen Alternativen und Anknüpfungspunkten für die Gruppe suchen. 

Die Systemfunktionen bauen kumulativ aufeinander auf, zwischen ihnen besteht ein evolutionärer Zusammenhang.

Systemfunktionen:

  1. Ausbildung einer konstitutiven Grenze, die das neue Gebilde von der Umwelt abhebt. Diese stellt eine selektive Beziehung zwischen System und Umwelt her, die durch (intersubjektiv geteilten) Sinn als Ordnungsform sozialen Handelns konstituiert wird. Denn erst die spezifische Selektionsleistung vor dem Hintergrund der überkomplexen Umweltmöglichkeiten schafft die Differenz zwischen System und Umwelt. Die Selektionsleistung ist funktional auf die Ausbildung und den Erhalt einer bestimmten Systemidentität bezogen, und dies ebenfalls vor dem Hintergrund des Einflusses der Umweltmöglichkeiten.
  2. Erschließung systemspezifischer Ressourcen zur Bedürfnisbefriedigung der Elemente / Mitglieder. Diese Bedürfnisse liegen im Falle sozialer Systeme häufig bereits vor der Systembildung vor, können aber nur durch die Form des sozialen Systems als emergente Qualitäten gewonnen werden.
  3. Zur Absicherung der Bedürfnisbefriedigung werden normative Strukturregeln ausgebildet. Dabei handelt es sich um sinnhaft-symbolisch konstituierte Regulationsmechanismen, die die Transaktionen zwischen System und Umwelt steuern.
  4. Darauf aufbauend sorgt eine zielgerichtete Koordination und Synchronisation von Systemprozessen, also den systemspezifischen Formen der Prozessierung von Sinn, für die kontinuierliche Verfolgung der Systemziele.
  5. Selbstbestimmung ermöglicht eigenständige Entscheidungen über Ziele; Reflexivität. 
  6. Die Reproduktion des sozialen Systems geschieht auf Basis anschlussfähiger Kommunikationen. 

Was also kennzeichnet ein System?

  • Abgrenzung von der Umwelt
  • gemeinsame Strukturen
  • gemeinsames Handeln
  • Zielverfolgung (erstes Ziel: Selbsterhalt)
  • aufgebaut aus Elementen
  • Systeme definieren sich aus Sinn, beim Quasi-System wird Sinn extern zugeleitet. 
  • Die Elemente sozialer Systeme sind Kommunikationen, nicht aber Personen an sich.
  • Ein System ist ein ganzheitlicher Zusammenhang von Teilen, deren Beziehungen untereinander quantitativ intensiver und qualitativ produktiver sind, als ihre Beziehungen zu anderen Elementen. Dadurch wird eine symbolisch-sinnhafte Systemgrenze konstituiert, die System und Umwelt trennt.

 

Exkurs: Kybernetik erster und zweiter Ordnung

Kybernetik als „Lehre von Regelung / Steuerung und Kommunikation im Lebewesen und in der Maschine“ (Norbert Wiener)  

Kybernetik erster Ordnung: Hierbei handelt es sich um einen technischen Systembegriff, um einen einfacher Regelkreis in Gestalt eines Rückkopplungssystem. Ein Ziel soll durch die (unterschiedlichen) Prozesse Steuern und Regeln erreicht werden. Ein Beobachter befindet sich außerhalb des Systems und spielet keine Rolle für das beobachtete System. Hier geht man noch von der Möglichkeit der zielgerichteten Einflussnahme auf das beobachtete System aus. 

Kybernetik zweiter Ordnung: Diese Weiterentwicklung des Kybernetik-Begriffs geht auf Heinz von Förster zurück und soll dem Wechselspiel zweier komplexer Systeme (beobachtetes und beobachtendes System) Rechnung tragen. Der Beobachter als eigenständiges System wird in die Beobachtung integriert, Selbstbezüglichkeit und Subjektivität werden in die Analyse des Systems einbezogen. Komplexe, geschlossene Systeme sind zur eigenverantwortlichen Steuerung fähig und entscheiden nach eigenen Regeln, wie die Informationen von interagierenden Systemen aus der Umwelt verarbeitet werden sollen

Grundlegend ist der Einbezug des Beobachters (beobachtenden Systems) eines Systems hinsichtlich der Frage, wie der Beobachter das beobachtete System erschafft und verändert. Es handelt sich um einen komplexen Regelkreis, der den Beobachter im System beinhaltet (Beobachtung 2. Ordnung = Beobachtung der Beobachtung eines Objektes). Auch der Beobachter verändert sich durch die Beobachtung. 

Der Beobachter muss also als Teil des beobachteten Kontextes konzeptualisiert werden. Generell bestehen Zweifel, dass es objektiv vom Beobachter erkennbare Systeme überhaupt gibt.

 

Exkurs: Beobachten

Der Beobachter ist stets selbst ein System, das nach den Operationsregeln eines Systems arbeitet.

  • Das erkennende System ist ausschließlich an das eigene Instrumentarium des Beobachtens und Verstehens gebunden, weshalb es den Gegenstand seiner Erkenntnis nicht objektiv, real, wirklich etc. ergründen kann.

Folgerungen:

  • Die Logik der Beobachtung und der aus der Beobachtung hervorgehenden Beschreibung ist nicht die Logik des beobachteten Phänomens, sonder des beobachtenden Systems und dessen kognitiver Struktur.
  • Die Operation der Beobachtung liegt vor, wen das beobachtende System aus der Feststellung eines Unterschiedes eine Information gewinnen kann.
  • Das Phänomen der Beobachtung konstituiert die Beobachtung des Phänomens. Der Beobachtungsgegenstand wird für den Beobachter zu einer beobachtbaren Entität, wenn er ihn beschreiben und bezeichnen kann.
  • Bezeichnen meint, die Einheit des beobachteten Gegenstands in Differenz zu allem anderen und zu sich selbst zu erkennen.
  • Beschreiben meint die tatsächlichen oder möglichen Interaktionen und Relationen des beobachteten Gegenstandes aufzuzählen, um die interne Funktionslogik zu erschließen.

Die Referenz der Beobachtung ist dabei nur vordergründig der beobachtete Gegenstand, denn aufgrund der beobachterabhängigen Rekonstruktion des Gegenstandes ist die Referenz der Beobachtung der Beobachter selbst (Selbstreferenz). Das Beobachtete kann sich nur als Einheit darstellen, wenn es eine eigene Funktionslogik aufweist, die es in ihrem Funktionieren auf sich selbst verweist, was eine direkte Beobachtung ausschließt. Der Beobachter kann als autopoietisches psychisches System fremde Systeme nicht unmittelbar erschließen. 

Letzteres hat, nebenbei bemerkt, nicht unerhebliche Auswirkung auf das Selbstverständnis pädagogischen Handelns:

„Erziehung steht vor dem Problem, dass sie nicht kann, was sie will. Sie hat es mit psychischen Systemen zu tun, die nur das tun, was sie tun. Ein Schüler, der grinst, grinst. Ein Schüler, der rechnet, rechnet. Man kann durch Tadel oder Lob darauf kommunikativ reagieren, aber es gibt keine Möglichkeit, die Bewußtseinsverläufe, die sich daraufhin ergeben, zu spezifizieren. (…) Überdies handelt es sich nicht um Trivialmaschinen, die nach der immer gleichen Transformationsfunktion reagieren, sondern um selbstreferentielle Maschinen, die durch eigene Operationen selbst bestimmen, wovon sie bei der anschließenden Operation ausgehen.“ (Niklas Luhman (1981): Das Kind als Medium der Erziehung, In: Zeitschrift für Pädagogik (37), S. 17 – 40, S. 23).

 

4. Bewusstsein, Intersubjektivität und Reflexion

Die Konstituierung von Selbst-Bewusstsein und Subjektivität scheint auf der Konstituierung von Intersubjektivität zu beruhen, also auf der Anerkennung von Alter als Subjekt. Denn erst doe soziale Umwelt liefert Kontrollimpulse, die reflektiertes Handeln ermöglichen. 

Auf der psychischen Ebene ist die Steuerung operativer Komplexität immer eine Reduktion der individuell gegebenen Möglichkeiten vor dem Hintergrund der jeweils gegebenen Möglichkeiten der anderen Subjekte (die zwischen Stimulus und Response liegenden handlungsleitenden Konzepte erlauben die selbständige Bildung von Zielen, was Handlung ermöglicht). 

Reflexion beschreibt die Fähigkeit sozialer Systeme, sich selbst zu thematisieren und sich selbst als Umwelt anderer sozialer Systeme zu begreifen. Dies beinhaltet die Selbstbestimmung bezüglich der eigenen Identität, die Selbstthematisierung, in der die Einheit des Systems für seine Elemente zugänglich wird und ist die Bedingung für die Kompatibilität der Teile eines komplexen Gesamtsystems.

 Funktional ausdifferenzierte Teilsysteme finden ihre Identität in ihrer spezifischen Funktion und begreifen sich zusätzlich als adäquate Umwelt für andere Teilsysteme. Mögliche daraus resultierende Handlungsrestriktionen werden in das eigene Entscheidungskalkül einbezogen. Die Teilsysteme sind sich dessen bewusst, dass sie füreinander hohe Kontingenzen und operative Komplexität schaffen.

  • Reflexion ermöglicht die Selbst-Beschränkung durch Rücksichtnahme auf die Entwicklungs- und Überlebenschancen anderer Teilsysteme.
  • Die Motivation dafür ist nicht Altruismus, sondern eine Form der Handlungsrationalität. Wenn Reflexion die Handlungsmaxime des Gesamtsystems ist, führt dies zu einer langfristigen und kontinuierlichen Verbesserung der Möglichkeiten der Teilsysteme.
  • Reflexion ist eine evolutionäre Errungenschaft, da Konflikte antizipiert und Handeln entsprechend gesteuert werden klann. 
  • Der Fokus liegt auf dem kontinuierlich optimalen Nutzen, nicht aber auf dem maximalen Nutzen.
  • Reflexion führt zur Selbstbeschränkung und eröffnet optimale Handlungsmöglichkeiten auf einer höheren Ebene.
  • Soziale Systeme lösen das Problem der operativen Komplexität durch Selbstbeschränkung (Operative Komplexität: Soziale Systeme setzen der Determination durch die Umwelt einen eigenen Willen und eigene Ziele entgegen. Diese beruhen auf handlungsleitenden und prozesssteuernden symbolischen Konstrukte / Wissensbestände, die zwischen Perzeption und Assimilation sowie zwischen Operationen und Produktionen angesiedelt sind. Dies ermöglicht erst Handeln, das somit eine völlig andere Verhaltensqualität darstellt, als eine bloße Reaktion auf Umweltstimuli.)
  • Bedingung für Reflexion ist das Bewusstsein seiner selbst, die Fähigkeit, das Verhältnis zur Umwelt operativ zu definieren sowie die Fähigkeit, die Beziehung zu sich selbst und zur Umwelt miteinander in Relation zu bringen. 

Integration ist die Organisation des Zusammenspiels zwischen differenzierten Teilen, die den Zusammenhang eines gemeinsamen Ganzen mit emergenten Qualitäten zulässt. Sie ist wichtige Bedingung für die Steuerbarkeit des Gesamtsystems.

Steuerung ist die Form der Organisation der Konditionalitäten relativ autonomer Akteure, die diese Akteure auf eine bestimmte Umwelt bezogen zielorientiert handlungsfähig macht. 

Emergenz: Das Ganze (System) ist mehr, als die Aggregation seiner Teile. Systeme entwickeln emergenten Eigenschaften, die aus den Eigenschaften der Elemente nicht mehr zu erklären sind. Sie sind komplett neu und charakteristisch für die aktuelle Entwicklungsebene des komplexen Systems.

 

Zur Evolution sozialer Systeme

Ausgangspunkt ist ein System, dass über so viele Elemente verfügt, dass nicht mehr jedes Element mit jedem anderen verknüpft werden kann. Es entwickeln sich die emergenten Mechanismen Struktur und Prozess.

Strukturen erlauben einem System, nur bestimmte Selektionsmuster in der Verknüpfung von Elementen zu realisieren, und andere, für das System irrelevante Selektionsmuster zu ignorieren.

Prozesse erlauben es dem System, das Nacheinander der Verknüpfungen nach bestimmten Mustern selektiv zu steuern und aus der Differenz zwischen möglichen zeitlichen Verknüpfungen sowie aktualisierten zeitlichen Verknüpfungen eine systemspezifische Zeit zu generieren.

Das sich selbst thematisierende System konstituiert Sinn, wobei es sinnhaften Systemen stets möglich ist, Strukturen und Prozesse gezielt zu ändern.

 – Sinnhafte Systeme erzwingen und möglichen Handeln zugleich. Die ursprüngliche Automatik der Selektionsleistung („Verhalten“; z.B. durch Instinkte) geht zugunsten des Handelns verloren.

  • Mit dem Wegfall dieses Automatismus’ verschwindet auch dessen relative Problemlosigkeit; es entsteht das Problem der Plausibilität der Wahl und damit ein Begründungszwang der gewählten Option imm sozialen System.
  • Handeln ist eine Auswahl unter kontingenten Möglichkeiten, soziales Handeln ist eine Auswahl unter der Bedingung der doppelten Kontingenz.  
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