Literarisches: Die Realität des Biertrinkens

Hierbei handelt es sich um einen Ausschnitt aus der Novelle „Freier Fall“ aus dem Jahr 2005, an deren Veröffentlichung im Selbstverlag ich zurzeit arbeite.

 

Über die Realität des Biertrinkes

Plötzlich muss ich an die Fernsehwerbung der Brauereien denken. An all die realitätsfernen Bilder, auf denen junge adrett gekleidete Leute gesellig in einer hippen Kneipe, auf einem Segelboot oder einer anderen interessanten Location sitzen und in angeregte Konversationen vertieft an ihren Biergläsern nippen. So trinken nur Verlierer, Warmduscher oder elende Muttersöhnchen ihr Bier. Mit der Realität des fortgeschrittenen Wirkungstrinkens hat das nicht die Bohne zu tun. Sicher, man kann Freunde treffen, sich angeregt unterhalten und dabei ein gepflegtes Bier trinken. Doch was, wenn das eine gepflegte Bier ausgetrunken ist? Und das geht schnell, viel zu schnell. Dann bestellt man ein zweites, das man auch noch gepflegt trinkt – in aller Gediegenheit und Mäßigkeit, versteht sich. Die Konversation ist dann auch noch angeregt und interessant, vielleicht gibt man sogar noch ein positives Bild in der Gruppe ab. Noch immer passt man dazu, verhält sich erwartungsgemäß. Doch wie schnell ist auch dieses zweite Bier ausgetrunken? Selbst ein halber Liter wird zum sprichwörtlichen Tropfen auf dem heißen Stein, wenn man nur den minimal opportunen Redeanteil in einer solchen geselligen Runde abzuleisten versucht. Dann muss ein drittes Bier her, wobei der ein oder andere adrett Gekleidete vielleicht verwundert aufmerkt. Ab drei Gläsern Bier endet für die meisten das Genusstrinken und beginnt das Wirkungstrinken, die Sucht, das abweichende Verhalten. Ab drei Gläsern fangen die ersten in der Runde an, genauer hinzusehen.

Doch schneller, als es jedem Beteiligten Recht ist, ist auch dieses Glas wieder leer. Aber was tun? Der Pegel breitet sich doch gerade so schön im Kopf aus. Alles wirkt so bunt, ist so lebendig und intensiv – zumindest innerlich. Jetzt aufzuhören wäre eine Sünde. Ab dem vierten Bier beginnt die Konversation dann langsam zur Nebensache zu werden. Sie war schon vorher etwas lästig, doch nun beginnt sie, intensiv zu stören. Immer öfter hört man nicht mehr zu und gibt sich seinen Fantasien und Gedanken hin. Ist der Schalter erstmal umgelegt, gibt es kein Halten mehr. An oder Aus, Alkoholtrinken ist digital. Mehr und mehr verlagert sich die geistige Aktivität vom Außen auf das Innen. Und je mächtiger die Innenwelt wird, desto unwichtiger wird die Außenwelt. Was zunächst nicht das Schlechteste ist, denn so bestellt sich das fünfte Bier mit weniger Skrupeln. Am Ende des Fünften hat man sich dann schon soweit von der Konversation der geselligen Runde entfernt, dass Aufmerksamkeit nur noch durch ab und an eingeworfene Zustimmungs- oder Annahmelaute geheuchelt wird. Einen passenden oder gar intelligenten Beitrag bekommt man nicht nicht mehr hin. Wozu auch? Intern dagegen kreisen die Gedanken, dröhnt die laute Musik, spielt das Kopfkino.

Und natürlich muss sofort Nachschub her, der schnell auf dem Tisch steht. Der Konversation lässt sich nicht zuletzt auch deshalb nicht mehr folgen, weil man ständig pissen muss und den Anschluss verliert. Auf dem Klo spielt sich dann auch immer das Gleiche ab: Pimmel raus, strullen und hoffen, dass keiner vom Tisch zufällig auch im Klo erscheint. Man wäre dann ja gezwungen, ein paar Worte zu wechseln. Face to Face, ohne Nebengeräusche und die Auffangfunktion der Gruppe. Der andere würde schnell merken, was Sache ist. Meist kommt aber keiner hinzu. Dann zögert man die Zurückgezogengheit auf dem Klo noch eine halbe Minute heraus und gibt sich seinen pulsierenden Gedanken hin. Irgendwann gibt man sich dann einen Ruck und geht zurück an den Tisch – in betont straffer Haltung und mit aufgesetzt interessierter Mine. Doch schon längst hat man jegliches Interesse an dem Kram verloren, den die anderen sich erzählen. Es sind nur wertlose Worthülsen, die in den Äther geblasen werden.

Und da man ohnehin schon schief angeguckt wird und der ein oder andere kritische Spruch zu vernehmen ist, geht es nur noch darum, die gesellige Situation schnellstmöglich zu verlassen, um sich woanders ungestört und in aller gebotenen Ruhe dem Rausch hingeben zu können. Nach einem siebten Bier nuschelt man eine kaum hörbare und für die anderen meist absurde Verabschiedung in die Runde, zahlt und macht sich aus dem Staub. Aber nicht, um nach Hause zu gehen, sondern um sich in der nächsten Tanke für eine Fortsetzung des Abends zu verproviantieren. Für eine Fortsetzung alleine, ohne die störende Anwesenheit anderer. Die erste Hälfte der Dosen geht dann für den Heimweg drauf, der sich, je nach Lust und Laune, durch Umwege beliebig verlängern lässt. Die zweite Hälfte findet schließlich zuhause in die Kehle, wo man schließlich nach dem insgesamt zwölften bis fünfzehnten Bier ins Bett torkelt und ausgelöscht in den Schlaf fällt. Vielleicht kotzt man vorher noch auf den Fußboden, rutscht in der Soße aus und pennt gleich dort ein. Das ist die Realität des Trinkens, nicht der glattpolierte Mist aus der Werbung.

Gewiss, solche glattpolierten Menschen gibt es tatsächlich. Sie halten sich einen ganzen langen Abend an zwei winzigen Gläschen Bier fest und kauen einem das Ohr ab. Danach gehen sie nach Hause und legen sich in ihre Betten. Unvorstellbar, aber wahr. In früheren Zeiten hatte ich viele solche Menschen als Freunde oder Bekannte. Bloß wurden diese mit der Zeit immer weniger. Sie sind unter sich geblieben, haben mich sukzessive aus ihren ach so geselligen Runden ausgegrenzt. Was mir nicht unrecht war, denn so konnte ich schließlich trinken, ohne auf ihre Befindlichkeiten Rücksicht zu nehmen. Unvergessen das angeekelte Gesicht eines damals guten Bekannten, dem ich mal versehentlich ins Gesicht gerülpst hatte – und zwar samt Bröckchen aus dem Magen, die vom Gas mitgerissen wurden und mir über die Lippen kamen. Sicher kein schöner Anblick, aber was hätte ich tun sollen? Jedenfalls war das der letzte gesellige Abend zusammen mit Freunden, an den ich mich erinnern kann. Danach fand ich schnell Formen der Geselligkeit mit mir selbst.

Während ich so vor mich hin sinniere, ist meine Dose schon wieder leer. Aber das Absinken des Pegels wurde gestoppt. Langsam kehrt das ersehnte Wohlgefühl in meinen Körper zurück. Und auch die Erinnerung an das Erlebnis im Supermarkt wird blasser und blasser. Zufrieden schlendere ich durch ein gutbürgerliches Wohngebiet. Überall gepflegte Einfamilienhäuser, zu jedem ein Garten und ein Carport. Hier hat jeder Haushalt mindestens zwei Autos der Mittel- oder Oberklasse. Und damit die protzigen Benzinschleudern bei Regen nicht nass werden, stellt man sie unter solche Überdachungen. Denn diese bieten den Vorteil, das man die Karren von außen gut bestaunen kann und als Betrachter sofort weiß, dass man es hinter den schmucken Fenstern und Türen zu etwas gebracht hat, dass man gut situiert und in der besseren Gesellschaft angekommen ist.

Ich finde das widerlich und rotze auf den Boden. Ich weiß genau, dass hinter den verschlossenen Fenstern eine ganz andere Realität herrscht – und noch lange keine bessere. Was dort herrscht, ist Langeweile, Angepasstheit und Angst. Angst davor, all die Statussymbole eines Tages wieder zu verlieren, weil man seinen elenden Job verliert, zu dem man sich seit Jahren ohnehin nur unter Zwang geschleppt hat, damit man sich die zwei Autos samt Carport auch leisten kann. Weil man Jahre seines Lebens investiert hat, um sich zwei Haufen Blech hinstellen zu können. Doch das Schicksal ist gnadenlos. Eines Tages findet man einen Knubbel am Halsansatz, geht nichtsahnend zum Arzt und kriegt die Diagnose „Leukämie“ auf den Tisch geknallt. Dann nämlich war alles umsonst. Die ganze sorgsam geplante Ausbildung, das Studium, dessen Inhalt einen ohnehin nie interessiert hatte und das man nur deshalb durchzogen hat, weil man es in einem anderen Job zu nichts bringen konnte; die mühselig aufgebaute Karriere in irgendeinem gottverdammten Drecksunternehmen, das ohnehin nur dazu da ist, irgendwelche reichen Bonzen noch reicher zu machen; das demütigende Gebuckele vor Chefs, Investoren, Kunden oder Klienten, all die Überstunden und zurückgestellten Hobbys, all die verschwendete Lebenszeit, um Gehälter zu verdienen, die es einem ermöglichen, ein Haus, zwei Autos und ein Carport zu kaufen. Im Grunde alles Dinge, die man eigentlich nie haben wollte, aber dann irgendwann dringend zu benötigen glaubte, weil man dazugehören wollte. Weil man vor Nachbarn, Familie, Kollegen und Freunden ein gutes Bild abgeben, es zu etwas gebracht haben wollte. Und dann also die vernichtende Diagnose, die das unablässige Gebuckele und Getue mit einem einzigen Schlage in Frage zu stellen vermag. Und dann das tiefe Loch, die tiefe Trauer, die vernichtende Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit angesichts eines komplett verschwendeten und ab jetzt grausam zu Ende gehenden Lebens.

(…)

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