Die beste Ideologie ist die, die man nicht bemerkt…
Die neoliberale Ideologie wuchert
Europa durchlebt eine hochideologische Zeit. Das ist nur wenigen Menschen bewusst, denn die herrschende Ideologie, die selbstredend auch die Ideologie der Herrschenden ist, entpuppt sich als unauffällige Vertreterin ihres Genres. Damit erweist sie sich als sehr funktionstüchtig, denn es zählt zu den Merkmalen fähiger Ideologien, als solche eben nicht erkannt zu werden. Der Neoliberalismus, von nichts anderem ist hier die Rede, tarnt sich perfekt als scheinbar objektive Wirtschaftstheorie; als ökonomische Wissenschaft, die sich auf die unumstößlichen Gesetzmäßigkeiten und Sachverhalte der harten Realität beziehen will. Der Neoliberalismus geistert in mannigfaltiger Form durch die Medien und beherrscht die Erklärungsmuster gesellschaftlicher Eliten., seine groben Kernsätze können vom Durchschnittsbürger bereits ebenso treffsicher rezitiert werden, wie sie leider schon allzu viele „Modernisierungsverlierer“ für bare Münze halten. Diese Ideologie braucht keine schreiende Propaganda, keine Plakate, Aufmärsche oder Parolen. Subtil reproduziert sie sich in gesellschaftlichen Diskursen, die von der Definitionsmacht großer Medienkonzerne und der Kulturindustrie bestimmt werden. Schleichend verzerrt sie die Wahrnehmungsmuster und besetzt die Sprache mit ihrem spezifischen Neusprech.
Die Spatzen pfeifen ihre Mantras von den Dächern: der Staat soll sich verschlanken und zugunsten von Marktkräften aus ökonomischen und sozialen Sachbereichen zurückziehen; zu hohe Löhne und Lohnnebenkosten sowie ein regulierter Arbeitsmarkt schaffen Arbeitslosigkeit; eine hohe Steuerlast und unflexible Arbeits- und Kündigungsgesetze verscheuchen Investoren und schwächen den Standort; marktwidrige Strukturen und leistungsfeindliche Sozialsysteme verschlechtern die internationale Wettbewerbsfähigkeit und, und, und. Die mehrheitlich propagierten Rezepte für einen Ausweg aus der gegenwärtigen Krise gleichen sich lediglich in ihrer Radikalität, entstammen aber letztlich der gleichen wirtschaftswissenschaftlichen Theoriefamilie. Doch die erweist sich als erstaunlich falsifikationsresistent: weder war sie in der Lage, die gegenwärtige Krisensituation treffsicher vorherzusagen, noch führte ihre durchaus ambitionierte Umsetzung zu den versprochenen Effekten – ganz im Gegenteil. Da es sich bei der Ökonomie (an sich) um eine Wissenschaft handelt und sich die Protagonisten des Neoliberalismus ebenso auf die wissenschaftlichen Fundierung ihrer Leittheorie berufen, muss daran erinnert werden, dass eine Theorie bei abnehmender oder kaum vorhandener Leistungsfähigkeit ihre Daseinsberechtigung verlieren muss – so jedenfalls verliefe so das methodologisch korrekte Vorgehen.
Statt dessen erleben wir das Gegenteil und die falsche Medizin wird beim Ausbleiben der Genesung eben in noch höherer Dosis verabreicht. Doch bleibt die Genesung wirklich aus? Ist das Ganze tatsächlich so nutzlos und schlecht? Sicherlich nicht, denn die zur Ideologie mutierte Theorie hilft der ökonomisch herrschenden Klasse ihre Machtposition zu stabilisieren und zu erweitern. In den Köpfen der Menschen verankert, sorgt sie für die richtige Deutung der Welt, für die passende Konstruktion der Wirklichkeit. So können etwa eine steigende Massenarbeitslosigkeit, eine zunehmende Prekarisierung der noch verbleibenden Arbeitsplätze, ein wachsendes Drohpotential der dem Gewinn verpflichteten Ökonomie gegenüber noch halbwegs demokratisch legitimierten Institutionen, die fortschreitende Kolonialisierung immer weiterer Lebensbereiche durch Prinzipien der Konkurrenz und des Bilanzierens oder der ökonomisch begründete Abbau von biografischer Erwartungssicherheit und Lebensqualität, kurz also all jene hautnah spürbaren Einschnitte in die Rahmenbedingungen eines halbwegs zufriedenstellenden Lebens, nicht verhindern, dass sich selbst übel Betroffene oft kaum des Gedankens erwehren können, es ginge nun mal nicht anders. Auf der anderen Seite weist das ungehemmte Wuchern bestimmter privater und geschäftlicher Vermögen oder das steile Anwachsen von Konzerngewinnen auf den Club der Profiteure hin. Der größte Erfolg, den das neoliberale Programm zu verbuchen hat, ist seine geglückte Infizierung ganzer Gesellschaften. Die herrschende Klasse hat es mit Bravour geschafft, ihre partikularen Interessen als die der Allgemeinheit auszugeben, und „die herrschenden Gedanken sind weiter Nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die als Gedanken gefaßten herrschenden materiellen Verhältnisse“ (Marx-Engels-Werke, Bd.3, S. 46)
Das Ende der Wahl- und Denkmöglichkeiten
Demokratie hat damit zu tun, dass eigenbestimmte Entscheider als Mitglieder eines definierbaren politischen Gemeinwesens ihr künftiges Schicksal zu bestimmen versuchen, indem sie in einem festgelegten Prozedere zwischen verschiedenen Optionen wählen. Hierzu bedarf es, grob vereinfacht, geeigneter institutionalisierter Prozeduren innerhalb eines entsprechend verfassten Ganzen, hinreichend mündiger Entscheider sowie einem Satz wählbarer Alternativen. All diese drei Faktoren kränkeln zurzeit gewaltig, was nicht heißt, dass sie irgendwann einmal perfekt gewesen sein mochten. Doch das, was zurzeit an Demokratie stattfindet, ist allenfalls ein müder Schatten dessen, was selbst ohne überzeichnende Idealisierung halbwegs notwendig für entwickelte politische Gemeinwesen wäre.
Für die meisten Bürger bedeutet politische Partizipation, zu bestimmten Zeiten ein Kreuz auf einen Stimmzettel zu malen und ihn in eine Wahlurne zu stopfen. Ein punktueller Akt der Willensbekundung also, mit dem Repräsentanten gewählt werden, deren Handeln nach dem Wahlakt tendenziell unverbindlich wird und deren Einfluss gegenüber der Exekutive zudem stetig abnimmt . Der Positionsverlust der Parlamente, die Erosion ihrer Funktionen, weist auf das Zerbröseln der demokratischen Verfasstheit des Staates hin, innerhalb dessen Rahmen auch die partizipativen Institutionen immer mehr an Substanz verlieren. Es finden sich nichts als marode Strukturen, in denen die Entscheidungen des angeblichen demokratischen Souveräns schlechterdings versickern. Wie aber sieht es mit der Informationsbasis aus, auf der die wohlfeilen Entscheidungen gefällt werden? Die Bild-Zeitung, das schlagkräftigste Propagandainstrument des Springer-Imperiums, wartet da mit seiner eigenen Philosophie auf: „Das Verlangen vieler BILD-Leser nach einer geordneten, durchschaubaren und begreifbaren Welt – eine Welt, die man in BILD sucht und findet – beinhaltet auch die Angst vor dieser – ohne Hilfe zumeist nicht verstehbaren Welt.“ (Aus einer vom Springer-Verlag herausgegebenen Analyse der BILD-Zeitung, aus: Wallraff, Günter 1982 (zuerst 1977): Der Aufmacher. Der Mann, der bei Bild Hans Esser war, Köln, S. 86).
Die Menschen suchen in einer immer komplexer werdenden Welt nach Halt und Orientierung, nach einem begreifbaren Ordnungsschema, das ihnen hilft, sich mental zurechtzufinden. Und je einfacher die Erklärungsmuster ausfallen, desto leichter lässt man sich an die Hand nehmen und durchs Leben führen – nebenbei natürlich auch an die Wahlurne. Was vor über 20 Jahren schon funktionierte, verläuft heute auf weitaus höherem Niveau. Dank der massiven Konzentration auf dem Medienmarkt teilen sich Bertelsmann- und Springer-Konzern die Meinungshoheit über Deutschland. Dabei waltet Bild wie eh und je, hat aber Schützenhilfe von allerhand neuen Formaten aus Print, Funk und TV erhalten, die nunmehr alle Variationen zwischen Verdummung und Fehlinformation auf die Hirne ihrer zahlreichen Konsumenten losballern. Jugend und Jungwähler werden indes von den Dauerwerbesendungen der Musiksender auf ein Dasein als kritikunfähiges Konsumvieh getrimmt, dem furzenden Frosch sei Dank. Die relativ einfach zu begreifenden Botschaften des Neoliberalismus lassen sich auf diese Weise gut transportieren und erreichen zudem ein dankbares Publikum. Die Deutungshoheit der Massenmedien bestimmt die öffentlichen Diskurse, in denen sich die neoliberale Ideologie ausbreitet und reproduziert. Für zusätzliche Orientierung sorgt die Anreicherung mit neo-konservativen Werten. Schließlich sind Leistungsbereitschaft und Arbeitswillen in einer auf Konkurrenz und Wettbewerb aufgebauten Gesellschaft auch in moralischer Hinsicht Garanten für Erfolg; umgekehrt mangelt es den Gescheiterten an eben diesen Tugenden und jeder Ansatz von Solidarität wird im Verweis auf ihr Eigenverschulden erstickt. Folgerichtig muss der wohlhabende Unternehmensgewinnler tugendhaft sein, und sollte er zur Erhöhung seines Profits seine Belegschaft erpressen, folgt er ebenso tugendhaft den allgegenwärtigen Sachzwängen. Überkomplexität und fehlende Orientierung spielen simplifizierenden Ethiken und Heuristiken in die Hände, sofern ihre Affirmativität es erlaubt, sich in den vorherrschenden Verhältnissen möglichst widerspruchsfrei einzurichten.
Fürs erste kann man also zusammenfassen, dass die kognitive Überforderung der Bürger innerhalb einer hochkomplexen Ära und der daraus erwachsende Wusch nach vereinfachender Darstellung („Komplexitätsreduktion“) auf ein passendes massenmediales Angebot trifft. Diesem fällt es nicht schwer, Realitätsdeutungen zu verbreiten, die neoliberale Dogmen tief in gesellschaftlichen Diskursen verankern. Als Legitimationsbasis für Entscheidungen in Politik und Wirtschaft werden dabei hauptsächlich sogenannte Sachzwänge angeführt, die nur einen ganz engen Ausschnitt aus dem Spektrum möglicher Handlungen zulassen. Wahlmöglichkeiten werden also massiv begrenzt, wenn in einem konstruierten Klima des Konkurrierens jedes mit jedem nur ganz bestimmte Optionen zugelassen sind. Zusätzlich wird dafür gesorgt, dass der nicht-opportune Bereich aus dem Optionsspektrum nicht nur nicht ausgewählt, sondern gar nicht erst gedacht wird.
Starker Staat, schwacher Staat
Der Neoliberalismus hat in Sachen Gleichschaltung vieles erreicht und dabei die Substanz demokratischer Prozesse inhaltlich ausgehöhlt. Doch reicht das aus zur Machtsicherung der herrschenden Klasse? Noch nicht ganz, denn getreu dem Motto „Vertrauen (in die Gleichschaltung) ist gut, Kontrolle (der Gleichgeschalteten) ist besser“ gilt es gleichzeitig, das politisch-administrative Gefüge zur Interessensicherung einzusetzen. Verlangte der klassische Liberalismus noch nach einem relativ schwachen Staat, vor dem sich die Bürger durch einen umfangreichen Kanon an Bürgerrechten schützen, versucht der Neoliberalismus eine Art Gefälle an „Stärke“ zu installieren. Hinter diesem etwas blumigen Begriff verbirgt sich das Arsenal an Zwangsmitteln, mit deren Hilfe der politisch-administrative Apparat das Verhalten seiner Bürger erfassen, kontrollieren und lenken kann – wenn nötig in repressiver Manier auch gegen ihren Willen. Zweifellos hat sich damit auch der Bürgerbegriff im Neoliberalismus verschoben, denn es sind die Abwehrrechte des freien Bourgeois gegenüber dem Staat, die erodieren. Unangetastet bleibt lediglich seine vornehmste Freiheit, nämlich jene zum Privateigentum an Gütern und Produktionsmitteln. Alle anderen bürgerlichen Freiheiten dagegen sind prinzipiell in Gefahr, denn so schlank der Staat auch noch werden soll, die Werkzeuge der Repression und Kontrolle unterliegen einem eigenartigen Vermehrungs- und Verschärfungsprozess – und das nicht erst seit dem 11. September 2001.
Es gilt, den Menschen fit zu machen für das neoliberale Projekt, ihn zu mobilisieren für die Umsetzung der Ideologie. In dieser Hinsicht ist die der Postmoderne zuzuschreibende Entwicklung individualistischer Lebenskonzepte, selbst wenn sie sich im Einklang mit den vorherrschenden Produktionsweisen befunden haben sollten, eine gefährliche Angelegenheit, denn sie offenbaren einen eklatanten Verlust der Tugend. Dank Kulturindustrie und Konsumpropaganda konnte die Jugend von vielen dummen Gedanken ferngehalten werden, doch individuelles Verhalten scheint noch immer viel zu variabel zu sein, als dass es sich einer herrschenden Tugend unterordnen ließe. Dies aber gegenwärtig vor allem deshalb, weil der neoliberal gewendete Kapitalismus mit zunehmender Gnadenlosigkeit ein immer größeres Heer an Ausgegrenzten produziert. Ihre Wut und ihre Enttäuschung, ihr im Lichte der propagierten Tugenden sinnentleertes Leben, ihre durch massenmedialen Hetzkampagnen erlittenen Stigmatisierungen und nicht zuletzt ihre massiven Entfremdungsanzeichen in einer durchkapitalisierten Welt bergen ein zerstörerisches Potential, das eingedämmt werden muss. Es sind nicht erst die Krawalle in den Pariser Banlieus, die verdeutlichen, wie weit fortgeschritten gesellschaftliche Desintegration mancherorts ist.
Doch Desintegration bedroht die Form der gesellschaftlichen Ordnung, die als Grundlage für den kapitalistischen Produktionsprozess besonders schützenswert ist. Ganz in diesem Sinne hat auch der französische Staat reagiert, in dem er wesentliche Bürgerrechte per Verhängung des Ausnahmezustands einstweilen eingestampft hat. Aber es geht auch ohne Ausnahmezustand, oder vielmehr zur Hälfte, indem eine Art latenter Krisenzustand geschaffen wird, in dem eine umfassende Sicherheitsvorsorge als Reaktion auf die stets geschürte Angst vor Kriminalität, Terrorismus und dem Bösen schlechthin Repression hoffähig gemacht werden kann. Soziale Exklusion wirkt so zweifach der Demokratie entgegen, indem sie die Betroffenen von politischer Partizipation fernhält und Anlass zur Konstruktion eines diffusen Bedrohungsszenarios wird. Dieser hilft, all jene Maßnahmen zu legitimieren, durch die Kontrolle über die Bürger ausgeübt wird, sich produktionsopportun zu verhalten.
Staat?! Welcher Staat?
Man mag meinen, Bürger kennen ihren Staat zur genüge. Viele schimpfen auf ihn oder auf jene, die ihm zur Last fallen oder ihm schaden wollen. Der Staat ist ein diffuser Adressat für allerlei Ansprüche, Hoffnungen, Ängste, Aggressionen und Loyalitäten; in ihm kristallisieren sich bürgerliche Tugenden und Selbstverständnisse sowie politische Begehrlichkeiten zu einem übergeordneten Ganzen, zu einer fiktiven Körperschaft von väterlichem Charakter. Im neoliberalen Kapitalismus übt der Staat eine selektive Kontrolle über seine Subjekte aus; mit starker Hand kontrolliert er die sogenannten einfachen Leute, während er den mächtigen ökonomischen Akteuren alle Freiheiten lässt. Dem Staat, in seiner für ihn auch konstitutiven territorialen Begrenztheit ein Nationalstaat, sind die von ihm selbst entfesselten ökonomischen Akteure und Handlungszusammenhänge allerdings schon längst über den Kopf gewachsen. Als Sachzwänge finden sie Niederschlag in den aktuellen Diskussionen und führen zu angeblich alternativlosen Entscheidungen, von denen jede einzelne die Situation fester zementiert. Sie führen aber auch dazu, dass der Staat versucht, neue Handlungsressourcen in übergeordneten Strukturen zu erschließen, wie etwa der EU oder den Institutionen des Welthandelssystems. Das hat zwar den Nachteil, das Souveränität verloren geht, bringt aber einen nicht zu unterschätzenden Einflusszuwachs für die Exekutive mit sich, die sich dann, um beim Beispiel der EU zu bleiben, in Ministerrat und Kommission parlamentarisch ungestört austoben kann. Empfänglich für die Arbeit großer Wirtschaftslobbyisten wird so der neoliberalen Grundlinie gefolgt, indem das, was auf nationaler Ebene praktiziert wird, eben auch im supranationalen Rahmen Agenda ist.
Innerhalb und außerhalb dieser Strukturen verhandelt der Staat mit gesellschaftlichen Akteuren aller Couleur, da in einer hochkomplexen und interdependenten Welt Probleme eben nur noch in mehr oder weniger lockeren Verhandlungssystemen gelöst werden. Was neudeutsch Global Governance genannt wird und mancherorts als eine neue Form des strukturadäquaten Regierens gefeiert, offenbart aber zweierlei: Der Staat lässt sich als solcher immer schwieriger von anderen Akteuren abgrenzen, seine Grenzen werden diffus, was in letzter Konsequenz auch darauf hinweist, dass der Staat immer auch als integraler Staat (Gramsci) gedacht werden muss. Zweitens mögen markt- und nicht-marktförmige Verhandlungssysteme vielleicht den Staat entlasten, was als ihr unübertreffbares Plus gerne angeführt wird. Sie entlasten ihn aber auch von der Last der demokratischen Legitimierung, die so nicht mehr ohne weiteres herstellbar ist. Im neoliberalen Kapitalismus scheinen die Legitimationsansprüche an den Staat ohnehin zu schwinden, was der bürgerlichen Staatstheorie, in der der Staat als volksherrschaftlich legitimiertes Institutionengefüge angesehen wird, immer mehr den Boden entzieht. Vielmehr wird deutlich, wie groß die strukturelle Abhängigkeit des Staates von gesellschaftlichen Machtverhältnissen ist und welche Mühen er aufwenden muss, um die konflikthaften gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse zugunsten der ökonomisch herrschenden Klasse zu stabilisieren – in physischer wie auch psychischer Hinsicht. So erfolgt dann der Abbau des Staates (im Sinne der Zerschlagung politisch-administrativer Repression) vor allem auf der Seite seiner Beziehungen zur gesellschaftlich herrschenden Klasse. Demgegenüber ist auf der anderen Seite der Bilanz eine eindeutige Zunahme an ebendieser Repression gegenüber den unterlegenen Klassen zu verzeichnen. Insgesamt zeigt sich, dass sich der Staat vielmehr durch seine Fähigkeit zu legitimieren scheint, das immer weiter wachsende Konflikthaftpotential zwischen den gesellschaftlichen Klassen in einer Weise einzufrieden, die es der herrschenden Klasse erlaubt, ihren Machtanspruch so komfortabel wie zuverlässig zu stabilisieren. Die Legitimation durch den Volkswillen spielt demgegenüber eine nachgeordnete Rolle, sie ist dabei funktional für die oben genannte Legitimationsressource.
Falsches Bewusstsein
Die Kluft zwischen Arm und Reich wird größer, soziale Ungleichheiten wachsen an und die gesellschaftliche Desintegration erscheint bereits als bedrohlich genug, um mit teuerer Propaganda, zusätzlich zum repressiven Schreckensinstrumentarium versteht sich, bekämpft zu werden. Der Verteilungsbericht 2005 des WSI (Schäfer, Claus: Weiter in der Verteilungsfalle – Die Entwicklung der Einkommensverteilung in 2004 und den Vorjahren, in: WSI-Mitteilungen 11/2005 ) betont, dass es sich bei der ungleichen Einkommensentwicklung sowie der Fiskalpolitik, die diese noch unterstützt, um langfristige Trends handelt. Während die Netto-Lohnquote beständig abnimmt, wird die Belastung von Einkommen aus Unternehmertätigkeit konsequent abgeschwächt. Demnach finanziert sich der Staat zu 75,6 % aus der Lohn- und Verbrauchssteuern, die aus Entstehung und Verausgabung von Arbeitseinkommen und Lohnersatzeinkommen anfallen. Unternehmerische Gewinnsteuern sind dagegen nur noch zu 15,1 % an der Finanzierung des Staates beteiligt. Sieht man einmal davon ab, dass hier der spießbürgerliche Spruch „wes‘ Brot ich ess‘ des‘ Lied ich sing“ ins komplette Gegenteil verkehrt wird, muss man kein Zyniker sein, um festzustellen, dass die beherrschte Klasse ihre eigene Gängelung durch einen aufgeblähten politisch-administrativen Apparat recht teuer bezahlt. Allein diese Tatsache lässt erahnen, welche Leistung notwendig sein muss, um trotz dieses immensen Konfliktpotentials eine stabile politisch-gesellschaftliche Ordnung zu erhalten, die das Herrschaftsgefüge und die Art der Kapitalakkumulation nicht stört. Der tragende Gedanke eines solchen Ordnungsgefüges muss von hegemonialem Charakter sein. Es genügt nicht, die Daumenschrauben der Repression zuzuziehen, sondern es bedarf genauso des Einverständnisses der Beherrschten. Dieser Konsens ist notwendig, um die ideologische Deutungshoheit neoliberaler Ideen, auf welcher die politische Herrschaft letztlich fußt, bis in die tiefsten Verwinkelungen einer Gesellschaft zu transportieren. Er erfordert einen ungleichen Anpassungsprozess mit den ein oder anderen Zugeständnissen, führt aber letztlich zur Stabilität des Herrschaftsgefüges.
Konsensuale Anpassungen werden am ehesten durch demokratische Systeme ermöglicht, da hier dem möglichst breiten Input entsprochen werden muss und sich jeder Bürger auch im Output wiederfinden soll. Demokratien haben unterschiedliche Formen und Ausprägungen; und diese korrespondieren letztlich mit jenen Notwendigkeiten, die bei der Stabilisierung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse anfallen. Doch indem die beherrschte Klasse, geködert durch ein paar Leckerchen und überrannt durch die Übermacht der Deutungshoheit, glaubt, die Welt sei genau so, wie sie sich als soziales Konstrukt abzubilden scheint, ist sie schon der Ideologie aufgesessen. Und deren Wesen ist nichts weiter, als schlichtweg falsches Bewusstsein zu sein. So bleibt abschließend festzustellen, dass ein gesellschaftliches Herrschaftsverhältnis mit besonders hohem Konfliktpotential, um das es sich beim neoliberalen Kapitalismus (im Vergleich etwa zum staatsinterventionistischen / keynesianischen Kapitalismus) handelt, ebenso starker Stabilisierungen bedarf. Repression und Manipulation müssen sich auf einem vergleichsweise hohen Niveau bewegen, ohne jedoch so rigide zu sein, dass offene Konflikte ausbrechen. Dementsprechend verändert sich die Gestalt der Demokratie, ihre Qualität nimmt dabei genauso ab, wie ihre Bestandsbedingungen gefährdet werden. Sie wird zurückgeschnitten auf einen Torso aus ausgehöhlten Institutionen und Verfahren, in dem es schon strukturell kaum mehr möglich ist, ein der neoliberalen Ideologie widersprechendes politisches Handeln Gestalt annehmen zu lassen.