In Polen von Danzig über Malbork (Marienburg) und Frombork (Frauenburg) nach Russland ins Kaliningrader Gebiet nach Kaliningrad (Königsberg) und Svetlogorsk (Rauschen). Weiter über die Kurische Nehrung nach Litauen, und von Nida und Klaipėda ins Memeldelta. Abschließend von Šilutė (Heydekrug) ins Seebad Palanga und weiter nach Liepāja (Lettland).
Mai / Juni 2013, ca. 1.500 km
Prolog
Wie kaum eine andere europäische Region ist das ehemalige Ostpreussen mit einer ausgesprochen brisanten Geschichte behaftet. Und damit auch mit besonderen Emotionen, zumindest bei einem speziellen Teil der deutschen Bevölkerung. Früher so etwas wie eine Keimzelle urdeutscher Traditionen und Befindlichkeiten, erfolgte nach dem Zweiten Weltkrieg ein fast kompletter Bevölkerungsaustausch. Dieser reichte – vor allem im Königsberger Gebiet – bis hin zur kompletten Auslöschung der deutschen Geschichte dieser Region.
Flucht und Vertreibung aus der ostpreußischen Heimat mit ihren gewachsenen Traditionen und ihrer über 700-jährigen Geschichte waren für viele Ostpreussen traumatische bis tragische Erlebnisse. Unzählige verloren ihr Leben bei der Flucht über das zugefrorene Frische Haff oder in der Kälte des strengen Winters Anfang 1945. Die menschenleeren und zerstörten ostpreussischen Städte und Dörfer wurden fortan von Polen und Russen bewohnt. Diese gestalteten ihre neuen Lebensräume nach eigenen Vorstellungen, wobei viele Baudenkmäler – so sie denn den Krieg überstanden hatten – als Relikte des ehemaligen Feindes und Kriegsverursachers geschliffen wurden.
Vergessen werden sollte dabei jedoch nicht, dass ohne die wahnwitzige Kriegstreiberei und den menschenverachtenden Terror des NS-Regimes Europa niemals von einem derart zerstörerischen Weltkrieg überzogen worden wäre. Und eine der Folgen dieses Krieges war die Neugestaltung der staatlichen Territorien. Ohne den Krieg und vor allem seine passiven wie aktiven deutschen Verursacher wäre die Geschichte in dieser Region anders verlaufen. Dass auf russischer Seite besonders viele Kriegsopfer zu beklagen waren, mag zum Verständnis dafür beitragen, dass die damalige Sowjetunion das Königsberger Gebiet einer besonders radikalen „Russifizierung“ unterzogen hat.
Diese Radreise führte der Länge nach durch das ehemalige Ostpreussen. Mit dem Zug haben wir uns und unsere Räder via Szczecin (Stettin) nach Danzig transportiert, das zu Weimarer Zeiten als Freistaat am östlichen Rand des Polnischen Korridors und damit an der Schwelle zu Ostpreussen lag. Von dort aus ging es mit dem Rad nach Malbork (Marienburg) zur imposanten Marienburg am westlichen Rand Ostpreussens. Über Elblag (Elbing) und die Elbinger Höhe radelten wir weiter ins beschauliche Frombork (Frauenburg), das mit seiner Schlosskirche ein erster Höhepunkt dieser Radreise war.
Durch Braniewo (Brunau) rollten wir – übrigens über das (erneuerte) Pflaster der ehemaligen Reichsstraße 1(Berlin – Königsberg) – zum polnisch-russischen Grenzübergang Gronowo (Grünau) in die russische Exklave Kaliningradskaja Oblast, das damalige Königsberger Gebiet. Nach einigen Tagen im pulsierenden Kaliningrad (Königsberg) radelten wir weiter ins samländische Seebad Svetlogorsk (Rauschen) mit seiner Steilküste. Vorbei an Zelenogradsk (Cranz) enterten wir den russischen Teil der Kurischen Nehrung und machten eine letzte Station in Ribazi, dem früheren Rossitten.
Auf Litauischem Gebiet verbrachen wir einige sehr schöne Tage in Nida (Nidden), von wo aus wir zwei Tagesreisen nach Klaipėda (Memel) unternahmen. Mit dem Boot ließen wir uns schließlich von Nida über das Kurische Haff nach Šilutė (Heydekrug) ins Memeldelta übersetzen. Dort machten wir eine weitere Station und folgten den Spuren der Figuren von Herrmann Sudermann bis auf die Rusne-Insel.
Der letzte Abschnitt dieser Radreise führte nach Palanga, der „Litauischen Sommerhauptstadt“. Nach dem wohlverdienten Müßiggang in dem angenehmen Seebad radelten wir eine letzte Etappe ins lettische Liepāja, von wo aus uns eine Fähre zurück nach Lübeck brachte.
Etappen 1, 2: Lübeck – Szczecin – Danzig (15 km)
Anreise mit dem Zug
Es regnet und regnet und regnet. Das norddeutsche Frühjahr zeigt sich mal wieder von seiner bescheidenen Seite. Als ob das Wetter nicht etwas gut zu machen hätte, nach diesem ewig langen Winter. Doch heute ist uns das ausnahmsweise mal egal, denn diese Radreise beginnt mit einer Bahnfahrt. Genauer mit zwei Bahnfahrten, die uns bis nach Danzig bringen sollen, dem eigentlichen Startpunkt der Radreise. Da wir in Szczecin übernachten, darf es von uns aus noch zwei Tage lang regnen. Hauptsache, das Wetter zeigt sich mit der ersten Radetappe wieder versöhnlich.
Von Lübeck nach Szczecin zu kommen, ist bahntechnisch nicht schwierig. Mehrmals täglich fährt ein Zug vom Lübecker Hauptbahnhof aus quer durch Mecklenburg-Vorpommern (MV) nach Polen. Mit dem MV-Ticket ist die vierstündige Fahrt (Regionalbahn) samt Fahrradkarte zudem recht erschwinglich. Die eingesetzen Züge entsprechen zwar kaum dem Standard eines Unternehmens, das sündhaft teure Milliardenprojekte wie „Stuttgard 21“ bauen will. Aber das dünn besiedelte Mecklenburg ist für den neoliberal umstrukturierten Konzern eben nur eine ökonomische Nebensache.
Szczecin (450.000 EW) empfängt uns ebenfalls regnerisch. Unter dem trüben Grau des dicht bewölkten Himmels wirken die Häuser Polens viertgrößter Stadt trist und abweisend. Dass Szczecin keine Schönheit ist, zeigt sich vor allem bei Regenwetter. Zu unserem Hotel sind es nur zwei Kilometer. Und da wir die Strecke bereits gut kennen, beziehen wir eine Viertelstunde später unser Zimmerchen im Hotel Campanile. Die Räder kommen in einem abgeschlossenen Raum in der Tiefgarage sicher unter.
Während des obligatorischen Ganges durch die Stadt lässt uns der Regen unbehelligt. Da wir die Szczecin schon recht gut kennen, begnügen wir uns mit einem kurzen Bummel durch das Zentrum. Abendessen gibt′s in einem Schnellimbiss (Pommes mit Ketchup), für weitere Speisen und Getränke konsultieren wir vertrauensvoll die Dependancen von Biedronka und Żabka (der kleine „Froschladen“, bis spätabends geöffnet und mit besonders großer Auswahl an teils sehr starken Bieren).
Mit der polnischen Bahn nach Danzig
Gut ausgeschlafen stehen wir um kurz vor 10 Uhr auf Gleis 3 des Stettiner Hauptbahnhofs. Es ist einiges los, denn der Zug ist eine wichtige polnische West-Ost-Verbindung und fährt vom westpommerschen Szczecin bis nach Białystock kurz vor der Grenze zu Weißrussland. Der Zug rollt ein. Nun muss schnell das Fahrradabteil gefunden werden. Diesmal befindet es sich nicht ganz vorne oder hinten am Zug, sondern mittendrin. Zum Glück schaut Claudi genau hin und erspäht das kleine Fahrradsymbol an einem der Wagons. Alles Weitere ist einfach: Räder samt Gepäck ins Abteil wuchten und mit Spanngurten befestigen. Platz ist genug im großzügig bemessenen Abteil, außerdem sind wir die einzigen Radler im Zug.
Gegen 14 Uhr erreichen wir den Großraum von Trójmiasto, der Dreistadt aus Gdynia, Sopot und Danzig. Mit über 800.000 Einwohnern bezeichnet man sie zuweilen auch als zweitgrößte Stadt Polens, was allerdings etwas hinkt – schließlich sind es immer noch drei unabhängige Städte. Der Großraum beginnt allerdings schon vor den Toren Gdynias in Rumia. Hier ist es mit jeder Beschaulichkeit vorbei, alles ist in der Hand der Industrie. Will heißen, dass die wenig erbauliche Ästhetik schier endloser Industriegebiete und Geschäfte die Landschaft dominiert.
Die Industriegebiete gehen nahtlos in Gdynia über, wo sie sich in endlose Hafenanlagen verwandeln. Diese zeichnen sich als lange Reihen von Kränen am Horizont ab. Dazwischen immer wieder Wohngebiete mit Plattenbauten und Wohnhochhäusern. Auch Gdynia ist eher funktional als schön und trotzdem eine der reichsten Städte Polens.
Unser Zug hält nun sehr häufig. Mal an Haltestellen, mal einfach so auf der Strecke. Hier im Flaschenhals des Ballungsraums ist wohl allerhand los. Auch steigen immer mehr Leute zu und es wird voll im Fahrradabteil. Über eine halbe Stunde bummelt der Zug die zehn Kilometer zwischen Gdynia und Danzig Hauptbahnhof entlang. Da hätte man auch das Rad nehmen können, denke ich. Allerdings ist der Verkehr in Trójmiasto auch nicht ohne.
Endlich angekommen, ist der Rest ein Kinderspiel. Schnell ist die Straße gefunden, in der unser Appartement liegt. Stutzig werden erst, weil sich hinter der Hausnummer ein ganz gewöhnlicher Wohnblock verbirgt. Nichts deutet auf ein Hotel oder ähnliches hin, im Gegenteil. Trotzdem gehen wir hinein, und siehe da – oben wohnt der Eigentümer einer anderen Wohnung, die er als Appartement vermietet. Und dieses erweist sich als wahrer Glücksgriff: Eine komplett möblierte Wohnung mit Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmer, Bad und Balkon, in nur fünf Gehminuten von Danzigs Altstadt entfernt. Dazu ein Biedronka und Żabka in unmittelbarer Nähe – besser kann man in Danzig kaum unterkommen.
Und während wir am späten Nachmittag durch die pittoreske Altstadt Danzigs bummeln, lugt ein fast in Vergessenheit geratener Bekannter aus den Wolkenlücken hervor, die Sonne!
Etappe 3: Danzig – Malbork (Marienburg) (85 km)
Heute soll es mit Malbork ins ehemalige Ostpreußen gehen. Der Freistaat Danzig reichte zu Weimarer Zeiten bis ans Westufer des Nogat – und Malbork liegt auf der östlichen Seite.
Doch erst einmal müssen wir aus Danzig herauskommen. Und das ist nicht allzu einfach. Über die Elblaska verlassen wir die Stadt nach Osten. Der Name deutet an, dass es sich hier um eine Ausfallstraße handelt, die sich zur dicken E77 entwickelt und Danzig mit Elblag verbindet. Und so etwas bedeutet für den Radfahrer zumeist Stress. Zum Glück gibt es mal Radwege, mal Seitenstreifen, die uns vom Verkehr trennen.
Doch dann die Herausforderung: Irgendwann überquert die Straße Gleisanlagen. Die Brücke wurde wohl neu angelegt, und die Fahrbahn ist für Radfahrer offizielle Tabuzone. Auf der linken Seite gibt es eine Art Mehrzweckpfad, der wohl die Alternativstrecke für Radfahrer sein soll. Dieser aber endet abrupt vor einer hohen Leitplanke vor dem Zubringer zu einer autobahnähnlichen Straße.
Hier wurde die Verkehrsplanung offensichtlich nicht zu Ende gedacht, die Fahrbahn für Radler gesperrt, aber kein Ersatzweg zur Verfügung gestellt. So bleibt uns nichts anderes übrig, als die schweren Räder über die hüfthohe Leitplanke zu wuchten. Was durchaus gefährlich ist, denn auf der anderen Seite zweigt der Zubringer ab.
Von dieser Fehlplanung mal abgesehen, verläuft der Rest der Etappe sehr angenehm. Auf einem Deich geht es anschließend nach Sobieszewo, wo auf einer rumpeligen Brücke ein Seitenarm der Weichsel überquert wird. Weiter radeln wir durch jede Menge Danziger Vororte bis hin zum Hauptarm der Weichsel. Erst hier endet dann auch endlich mal das Danziger Stadtgebiet. Für uns ist hier eine Zwangspause angesagt. Es gibt keine Brücke über den recht mächtigen Strom, sondern eine altertümlich wirkende Fähre. Sie verkehrt alle halbe Stunde und kostet für uns beide zehn Złoty – ein stolzer Preis für zwei bescheidene Radler.
Weiter geht es, fast ausschließlich über kleine Landstraßen, bis nach Malbork. In Ostaszewo machen wir Rast und lassen uns auf den Treppenstufen eines Skłep Bier und Limonade schmecken. Skłep bedeutet soviel wie „Einkaufsladen“, von denen es selbst in kleinsten Dörfern einen gibt. Polen ist nicht wie Deutschland von den ewig gleichen Discounterfilialen überzogen, die sich nur dort ansiedeln, wo es sich lohnt. Fast jede Ortschaft hat dort ihren Einkaufsladen, in dem es Dinge des täglichen Bedarfs gibt. Hier muss man also nicht unterwegs verhungern, wenn die Reise nur durch Dörfer geht (ist mir in Mecklenburg einmal passiert, kein Witz).
Das erste, was wir von Malbork sehen, ist die riesige Marienburg. Das aber nur, weil wir von Nordwesten kommen. Kämen wir aus südlicher Richtung, wären es Plattenbauten. Wobei wir schon beim Thema wären: Malbork hat außer der Marienburg nicht viel zu bieten. Es ist sogar eine ziemlich gesichtslose Stadt, bei der sich die Plattenbausiedlungen der Peripherie bis ins Innere auszubreiten scheinen. Letzteres besteht lediglich aus der Ul. Kościuszki, in der auch die (recht gute) Touristeninformationen residiert. Aber auch diese Straße hat alles andere als Flair.
Dafür beherbergt sie an ihrem Anfang eine ganz besondere Attraktion, den Stadtplatz mit seinem Brunnen und dem König-Kasimir-Denkmal. Zu bestimmten Zeiten tanzen die Fontänen des Brunnes, dazu plärrt krächzige Musik aus rundum montierten Quäk-Lautsprechern. Muss man sich wirklich nicht antun.
Ansonsten ist Malbork eine eher belanglose Stadt ohne Charme und Atmosphäre. Gäbe es nicht die Marienburg, kaum ein Reiseführer würde sie erwähnen. Aber auch das weltgrößte Backsteingebäude, ehemaliger Sitz des Hochmeisters des Deutschen Ritterordens, ist nur für Fans von Ritterburgen interessant. Weil es für eine Besichtigung schon zu spät ist, begnügen wir uns mit einem Rundgang um das doch recht imposante Gebäude. Passend zur tristen Innenstadt Malborks verzieht sich der Himmel und lässt es regnen.
Etappe 4: Malbork (Marienburg) – Elbląg (Elbing) – Frombork (Frauenburg) (90 km)
Man darf Landkarten nicht immer vertrauen. Zumindest nicht unserer vom Höfer-Verlag. Um uns die verkehrsreiche 22 zu ersparen, verlassen wir Malbork auf der 515 nach Süden. Wenige Kilometer hinter dem Ortsausgang würden wir dann über kleine Landsträßchen in nordöstlicher Richtung auf Elblag zuradeln. So jedenfalls die Routenplanung anhand besagter Landkarte. Doch Stichstraßen nach Osten gibt es nicht. Nach sieben Kilometern versuchen wir unser Glück in der ersten Abzweigung. Wir folgen einem üblen Kolonnenweg, landen schließlich in einem Kaff. Endstation, weiter geht es nicht. Also umkehren, zurück nach Malbork und rauf die gefährliche 22. Siebzehn Kilometer umsonst geradelt – danke, Höfer-Verlag.
Sobald es vertretbar ist, verlassen wir die 22. Ganz einfach ist das nicht. Stets müssen wir damit rechnen, wieder im Nirgendwo zu landen. Weil unsere Landkarte unzuverlässig ist und die Beschilderung im polnischen Hinterland oft zu wünschen übrig lässt. Irgendwann finden wir aber doch einige brauchbare Nebenwege, die uns bis nach Elbląg bringen.
Die 120.000 Einwohner zählende Stadt ist die zweitgrößte der Woiwodschaft Ermland-Masuren. Es gab eine Zeit, da war sie bedeutender als Danzig. Doch die Danziger sorgten mit Sabotageaktion dafür, dass der Elblągs Zugang zum Frischen Haff versandete. Und so begann ihr Stern zu sinken. Wir legen in Elbląg eine Pause ein, denn wir müssen uns für die Wysoczyzna Elbląska (Elbinger Höhe) stärken. Dieser Ausläufer des Baltischen Höhenrückens steigt schon im nördlichen Teil der Stadt an und erreicht Höhen bis an die 200 Meter über NN. Knapp 30 Kilometer Berg- und Talfahrt liegen noch vor uns. Und die dichten Wolken verheißen nichts Gutes.
Radfahrtechnisch ist die Wysoczyzna Elbląska nicht schlimm. Mal geht es für ein paar Hundert Meter bergauf, dann wieder bergab usw. Einzig der Elbinger Berufsverkehr macht uns das Radeln auf der schmalen 504 anfangs schwer. Ab Piastowo lässt dieser langsam nach, dafür nimmt der Regen zu. Irgendwann wird aus dem Regen ein Wolkenbruch, eine Bushaltestelle gewährt uns Zuflucht.
Während wir in Frombork einrollen, scheint sogar die Sonne. Wie es sich für diese Kopernikus-Stadt gehört, quartieren wir uns im Hotel Kopernik ein, dem ersten Haus am Platz. Klingt nach teurem Zimmer, ist mit drei Sternen aber relativ erschwinglich. Sicher gibt es günstigere Unterkünfte. Aber auf den schönen Blick auf die Schlosskirche wollen wir nicht verzichten.
Frombork (Frauenburg) ist eine ausgesprochen schöne Stadt. Direkt am Frischen Haff gelegen, wird ihre Handvoll Straßenzüge von der imposanten Schlosskirche überragt. Der Größe nach würde der Bau in eine Großstadt passen, für den kleinen Ort wirkt er reichlich überdimensioniert. Aber genau dieses Missverhältnis macht den eigentümlichen Reiz des Städtchens aus. Diese Kulisse dürfte für viele ostpreussische Flüchtlinge eine unvergessliche Erinnerung gewesen sein, als sie sich im Winter 1944/45 über das zugefrorene Frische Haff in Richtung Nehrung bewegten. Unzählige Menschen fanden dabei den Tod. Ein kleiner Gedenkstein in der Nähe des Hafens erinnert daran.
Zwei ganze Tage verbringen wir in Frombork, weil unser Russisches Visum noch nicht gültig ist. Zeit genug, um die Schlosskirche, das Nikolaus Copernikus Museum und Heiliggeist-Hospital zu besuchen.
Etappe 5: Frombork – Kaliningrad (75 km)
Auf nach Russland!
Als ich 2010 das erste Mal von Frombork nach Kaliningrad radelte, herrschte bestes Wetter. Kaiserwetter könnte man sagen, also jenes Wetter, das wohl das liebste des alten Kaiser Wilhelm war – Sonnenschein satt, keine Wolke am Himmel. Zu Wilhelms Zeiten gab es noch kein Kaliningrad. Allerdings schon ein Kind namens Michail Iwanowitsch Kalinin, das in Jakolewskoje aufwuchs und später einmal Stellvertreter Stalins werden sollte.
An dieser geografischen Stelle gab es damals die Stadt Königsberg, die alte Hauptstadt der Provinz Ostpreußen, Keimzelle der Preußischen Kultur und Tradition mit über 700-jähriger Geschichte. Einer recht ungewöhnlichen Geschichte übrigens, da das „Preußentum“ gemeinhin als ein wichtiger Bestandteil der deutschen Nationalkultur und -identität gilt. Weniger bekannt dürfte jedoch sein, dass die Pruzzen – also die unmittelbaren Vorfahren der Preußen – ein heidnisches Volk aus dem samländisch-litauischen Ostseeraum waren. Mit eigener Sprache, eigenen Riten und eigener Götterwelt.
Doch wieder zurück zum Kaiserwetter. Hier schließt sich der Kreis zu meiner ersten Ostpreußenreise, denn die Sonne verwöhnt uns auch heute nach allerbesten Kräften. Es gehört sich einfach so, Kaliningrad ist eine Sommerstadt.
Am frühen Vormittag holen wir unsere Räder aus der Hotelgarage, packen das Gerödel auf und radeln los. Über eine schattige Allee geht es nach Braniewo, dem ehemaligen Braunsberg. Schon hier haben wir historischen Asphalt unter den Laufrädern, denn die polnische Landstraße 54 ist die frühere Reichsstraße 1, die Verbindung zwischen Berlin und Köingsberg. Für eine Fernstraße von derart hoher Bedeutung fällt die Landstraße jedoch recht gemütlich aus. Schon lange rollt der Hauptverkehr einige Kilometer südlich über die Fernstraße 22 von Polen ins Kaliningrader Gebiet und zurück. Gut für uns, denn der Verkehr hält sich in sehr erträglichen Grenzen.
Braniewo (Braunsberg) war eine bedeutende Stadt, die durch ihre Lage im unmittelbaren Grenzgebiet zur russischen Exklave viele Benachteiligungen erleiden musste. Dennoch überrascht sie mit einer angenehmen Atmosphäre und der wuchtigen Katharinenirche.
Die fünf Kilometer von Braniewo nach Gronowo (Grunau) vergehen wie im Fluge. Die Straße führt an Knoblauchfeldern vorbei, einem unserer Lieblingsgemüse (sehr zum Leidwesen unserer Mitmenschen). Gronowo ist ein typischer Grenzort: hässlich, uninteressant, bloß eine Durchgangsstation. Niemand verweilt hier. Und alle, die hier wohnen, sind entweder Grenzbeamte oder Knoblauchbauern. In einer Wechselstube tauschen wir unsere restlichen Zloty in Rubel ein, dann geht′s weiter zur berüchtigten EU-Außengrenze.
Russisch ist der Boden nur nominell-politisch. Das eigentliche Russland liegt dreihundert Kilometer weiter östlich. Wie auch Pommern, Danzig und Pommerellen gehörte Ostpreußen mal zu Deutschland. Und in seiner langen Geschichte bildete sich eine eigenständige Kultur und Identität heraus, die als ein wichtiger Bestandteil des „Deutschen“ gelten kann.
Sicher, ohne die nazideutsche Kriegsaggression würde die politische Landkarte Europas ganz anders aussehen. Russlands menschliche und materielle Verluste im Zweiten Weltkrieg waren riesig, Wehrmacht und Waffen-SS hatten ganze Arbeit geleistet. Vor diesem Hintergrund erscheint die Vertreibung und Flucht der deutschen Bevölkerung aus der Region als nachvollziehbare Konsequenz der vorangegangenen militärischen Aggression.
Was folgte, war ein welthistorisch eher seltener Vorgang, nämlich der komplette Austausch einer Bevölkerung durch eine andere. Die deutschen Bewohner wurden vertrieben, in die zerstörten Städte und Dörfer holte man Menschen aus zum Teil entlegenen Provinzen der Sowjetunion. Die deutsche Vergangenheit des Königsberger Gebietes wurde offiziell ignoriert, alle Städte umbenannt und der Wiederaufbau nach russischen Vorstellungen vorgenommen. Was an alter Bausubstanz noch übrig war, wurde meist geschliffen oder dem Verfall überlassen.
So erinnert heute im Kaliningrader Gebiet nicht mehr viel an das alte Ostpreußen. Und ohne die wenigen Überbleibsel aus der alten Zeit könnte Kaliningrad gut als zentralsibirische Stadt durchgehen. Sie ist eben russisch, nicht deutsch. Gleiches gilt für die anderen Ortschaften in der Oblast. Nur selten blieben Reste ihrer ostpreußischen Vergangenheit erhalten.
Drei Kilometer hinter der Grenze liegt Manonovo, das frühere Heiligenbeil. Benannt wurde es nach dem Soldaten Nikolai Wassiljewitsch Mamonovo, der hier bei einer Schlacht sein Leben verlor. Die meisten Häuser wirken heruntergekommen, und ihr Putz hat meist auch nur noch die Aufgabe zu bröckeln. Doch hie und da sticht auch mal eine protzige Villa hervor. Russland hat nach der Implosion der Sowjetunion den früheren technokratischen Pseudo-Kommunismus einfach durch den ungezügelten Einheits-Kapitalismus der globalen Finanzdiktatur ersetzt. Folge: Eine grassierende soziale Ungleichheit, die man nicht zuletzt an solchen schicken Villen erkennen kann.
Laduskin (Ludiwigsort) ist die erste größere Stadt. Im Vergleich zu Mamonovo sieht es hier sogar durchaus gepflegt aus. Die Häuser wirken fast kleinbürgerlich; so wohnt man auch in Schwerin oder Grevesmühlen. Nur der Farbton der Fassaden ist ein wenig grauer. Wir holpern über Schienenstränge, die die Straße kreuzen. Hier entlang rollt die Bahn aus und nach Polen (Elblag).
Als nächstes folgt Uskovo, das ehemalige Brandenburg. Das Städtchen liegt direkt am Wasser, hier mündet die Prohladnaja (Frisching) ins Frische Haff und gibt ihm seinen Namen. Zum Leidwesen der Autofahrer wird die Brücke über das Flüsschen gerade instand gesetzt. Um nach Kaliningrad zu kommen, müssen sie Uskovo weit umfahren. Wir dagegen können unsere Räder durch die Baustelle auf die andere Seite schieben. Rechter Hand steht der zerfallene Turm der Brandenburger Kirche. In ihrem Chor wurde 1380 der Deutschordens-Komtur Günter von Hohenstein beigesetzt. Heute sind die Krümel seiner Gebeine wohl weit über den Kirchenhügel verteilt und dienen dem Unkraut als Dünger.
Das Kaliningrader Stadtgebiet rückt immer näher, was sich vor allem am Autoverkehr ablesen lässt. Vorbei ist es langsam mit der bisherigen Gemütlichkeit. In Pribrelnoe lässt sich gut auf die andere Seite des Haffs Blicken, wo überwiegend Industrieanlagen stehen. Schließlich haben wir die Stadtgrenze erreicht und tauchen ein ins Getümmel der Großstadt. Radfahren ist in Kaliningrad zwar nicht unmöglich oder lebensgefährlich, macht aber nicht unbedingt viel Spaß. Geachtet werden muss nicht nur auf den chaotischen Verkehr, sondern auch auf tiefe Schlaglöcher und ähnliche Hindernisse. Wir arbeiten uns bis zu Brandenburger Tor vor, danach steigen wir ab und schieben. Der Vorteil: So können wir schon einmal Eindrücke sammeln und die Stadt besichtigen.
Auf Spurensuche
Kaliningrad ist eine Stadt mit bewegter Geschichte, und zwar sowohl russischer als auch deutscher. Die deutsche (ostpreussische) Geschichte reicht über siebenhundert Jahre in die Vergangenheit zurück, während die russische in Kaliningrad noch nicht einmal ein Jahrhundert vorweisen kann. Allerdings haben die wenigen Jahre der russischen Geschichte das ehemalige Königsberg ausgesprochen nachhaltig und gründlich verändert. Und so steht auch die Suche nach Überbleibseln aus Ostpreussischer Zeit auf unserem Programm.
Bevor es soweit ist, steht aber erstmal die Such nach unserem Hotel ganz oben auf der Liste. Es hört auf den Namen Old Kenigsberg und befindet sich in der Ul. Tomskaja, einer Seitenstraßen der Ul. Frunze (Königstraße). Der Hausnummer nach kommt nur ein Gebäude in Frage, doch nach Hotel sieht der ältere Backsteinbau nicht aus. Nicht einmal ein Hinweisschild gibt es. auch drinnen wird es nicht besser. Anstelle einer Rezeption stehen wir vor dem Schalter eines Pförtners, dahinter sind Büro- und Schulungsräume.
Ich stammele etwas von „Gostinica“ (Hotel) und zeige unseren Buchungszettel. Und siehe da, der Mann telefoniert eine junge Frau herbei, die sogar etwas Englisch spricht und uns in unser Zimmer im dritten Stock (kein Aufzug) begleitet. Dir Räder können diebstahlsicher in einer Abstellkammer eingeschlossen werden.
Wir brechen auf zur ersten Runde durch die Stadt – zu Fuß, denn auf dem Fahrrad wäre es kein Vergnügen. Die ersten Sehenswürdigkeiten liegen in unmittelbarer Hotelumgebung. Im Königseck an der ul. Frunze ist noch die Fassade einer Königsberger Häuserzeile stehen geblieben. Was mit den Ruinen geschehen wird, steht in den Sternen. Über einem Fenster ist noch deutlich der Schriftzug „Kreuz-Apotheke“ zu erkennen.
Keinen Kilometer entfernt befindet sich die Bastion Grolman, ein Kasernenkomplex aus preussischer Zeit. Heute beherbergt er Dienstleistungsunternehmen und ein Tanzcafe. Vorbei am Königstorwandern wir den Litovskij Val nach Norden in Richtung Zentrum. Das frisch renovierte Königstor wirkt zwischen Wohnhochhäusern und Verkehrsgewimmel eher unscheinbar. Vorbei an Roßgärtner Tor, Oberteichund Dohnaturm geht es weiter in den Zentralmarkt. Er befindet sich in den ehemaligen Kavalleriestallungen der Königsberger Garnison, unterscheidet sich aber sonst nicht von anderen Markthallen. Die Preise für Lebensmittel liegen hier aber deutlich unter denen der Supermärkte.
Mit dem Pl. Pobedy (Siegesplatz) haben wir das Zentrum des modernen Kaliningrad erreicht. Hier pulsiert das Leben, gehen die Menschen shoppen oder sitzen in Restaurants am Straßenrand. Der Platz selbst wirkt aufgeräumt und gepflegt, er wird dominiert von Rathaus, Nordbahnhof und Erlöserkathedrale. Letztere gilt als zweitgrößter Kirchenbau Russlands, ihr Inneres ist aber nicht weiter sehenswert.
Von hier ist es nicht weit bis zum pl. Central′naja, der eines der bekanntesten Bauwerke Kaliningrads beherbergt: das Haus der Räte. Einst befand sich dort das Königsberger Schloss, dessen Ruine 1968 gesprengt wurde. Man begann mit dem Bau des Hauses der Räte, das als Sitz der Gebietsverwaltung vorgesehen war. Da das viele Dynamit dem weichen Boden arg zugesetzt hatte, begann sich der fertige Rohbau leicht zu neigen und verschönert (im Ernst!, FS) seitdem das Stadtbild. Es gibt Stimmen, die den Platz als „öde Stadtbrache“ bezeichnen. Tatsächlich lockert der pl. Central′naja die dichte Bebauung auf und wertet Kaliningrads Zentrum auf.
Zumal sich die nächste großzügige Freifläche unmittelbar daneben befindet – die Pregelinsel (ehemaliger Kneiphof) mit dem Königsberger Dom. Dort treffen sich im Sommer viele jüngere Kaliningrader, setzen sich auf eine der vielen Parkbänke oder auf den Rasen und lassen sich ihr Bier schmecken.
Am Ende unserer Runde bummeln wir über den geschäftigen Leninskij prospekt und machen uns auf dem Rückweg. Am Abend, nach Einkäufen und einem Abendessen in der maroden Hotelküche, trinken wir unser Abendbier stilecht auf der Pregelinsel im Schatten des Domes.
Die südlichen Stadtteile
Am folgenden Tag geht es in den Süden der Stadt. Über Pregelinsel und Honigbrücke (historische Klappbrücke) und das Fischdorf wandern wir bei bestem Wetter zum Alten Pregel, dem südlichen Pregelarm an der Pregelinsel. Wo die große Ul. Oktjabr′skaja den Alten Pregel überquert, ist noch das alte Brückenhäuschen sowie die Fundamente der ehemaligen Hohen Brücke zu sehen. Am Ufer daneben lagern ein paar Obdachlose im trockenen Gras.
Das Friedländer Tor sehen wir nur aus einiger Entfernung, da die Ul. Kalinina ansonsten wenig Interessantes zu bieten hat. An ihrer Südseite breitet sich der weiträumige Park der Komsomolzen aus, wo wegen des Sommerwetters reger Betrieb herrscht. Und da auch in Russland alles seine Ordnung haben muss, befördern zwei Polizisten einen Angetrunkenen aus dem Park hinaus auf die Straße.
Sehenswert dagegen ist der Südbahnhof. Der ehemalige Hauptbahnhof Königsbergs (Baujahr 1929) überstand die Zeiten unzerstört und ist noch heute mit dem sowjetischen Symbol Hammer und Sichel verziert. Wie überall in Russland zeigt die Bahnhofsuhr Moskauer Zeit an. Das nicht etwa aus Gründen eines staatlichen Zentralismus, sondern zur Vereinfachung von Fahrplanangaben in einem Land, das sich über viele Zeitzonen erstreckt.
Am südlichen Leninkij Prospekt statten wir der Leninstatue einen Besuch ab. Der alte Revolutionär steht vor dem Haus der Kultur ein wenig abseits des städtischen Trubels. Abschließend zieht es uns noch einmal auf den pl. Probedy, wo wir uns in einem Restaurant auf Zwiebelringe, Bier und Vodka niederlassen. Und am Abend gibt′s dann wieder das Spätbier auf der Pregelinsel.
Ins samländische Seebad: Kaliningrad (Königsberg)- Svetlogorsk (Rauschen)
uch aus der schönsten Stadt muss man mal irgendwann abreisen. Zwar ist Klainingrad nicht im herkömmlichen Sinne „schön“ dafür aber im positiven Sinne eigenwillig. Alle noch vorhanden Baudenkmäler aus alter preußischer Zeit konnten wir nicht aufsuchen, aber schließlich soll dieser Besuch nicht der letzte gewesen sein.
Svetlogorsk, das alte Seebad Rauschen, ist unser nächstes Ziel. Mit etwas über 60 Kilometern wird die Etappe auch nicht allzu strapazierend sein. Denken wir zumindest vor der Abfahrt. Das Wetter ist sonnig und heiß, und wenn erstmal das Kaliningrader Stadtgebiet hinter uns liegt, geht es durch stressfrei durch die lieblichen Landschaften Samlands, denken wir uns.
Weit gefehlt. Wir verlassen die Stadt über den Sovetskij prospekt in nordwestlicher Richtung. Bis in die Randgebiete herrscht der übliche unangenehme Verkehr, aber wir kommen gut vorwärts. Etwas haarig wird es dann an der Kreuzung der großen Überlandstraßen 192 und 193. Nichts geht mehr, wir stehen mitten im Stau. Aber auch danach gibt′s keine Entspannung. Auf der Landstraße schießen die Autos im Sekundentakt an uns vorbei. Auch auf der Gegenspur ist allerhand los.
Klar, das Wetter ist schön, und da will der Kaliningrader ans Meer. Und das tut er vor allem mit dem Auto. Und schnell muss es gehen, auch wenn da zwei Radfahrer auf der Fahrbahn unterwegs sind. Auch bei Gegenverkehr wird stoisch auf′s Gas getreten, selbst wenn der Platz sehr knapp wird. Und das wird er regelmäßig: Nicht nur für uns, sondern auch für die anderen Autler. Aber abbremsen wäre ja uncool, lieber gefährdet man reihenweise Leben – auch das eigene.
Übrigens ein Verhalten, das auch wir auch in Deutschland oft beobachten. Nur selten sind sich Autofahrer der Lebensgefährlichkeit ihres Fahrstils bewusst. Von der kognitiven Überforderung ganz zu schweigen.
Kein Wunder, dass wir von den schönen samländischen Landschaften zwischen Kaliningrad und Svetlogorsk nichts mitbekommen. Alle Sinne sind permanent gefordert, um den Verkehr ständig (und auch mit Rückspiegel!) im Auge zu behalten und abzuschätzen, ob der nächste Überholvorgang ohne Kollision über die Bühne gehen wird. Und das auf fast sechzig Kilometern und im Sekundentakt. Stress pur dank idiotischer Autofahrer.
Ganz in diesem Sinne zeigt sich Svetlogorsk zunächst von seiner lärmigen Seite. Über den Kaliningradskij prospekt donnert ein Auto nach dem anderen. Was wegen des Kopfsteinpflasters eine erbauliche Geräuschkulisse ergibt. Von Seebad und altem Luftkurort keine Spur. Nach dem üblichen Herumsuchen finden wir schließlich unser Hotel Lazur. Es ist ein alter sowjetischer Bau, der von außen etwas schäbig aussieht, innen aber hell und sympathisch wirkt. Weil es für unsere Räder keinen Abstellraum gibt, nehmen wir sie einfach mit aufs Zimmer.
Svetlogorsk: Gartenstadt für Reiche
Schon zu preußischer Zeit war das Seebad Rauschen an der samländischen Ostseeküste eine Perle. Und geändert hat sich daran auch bis heute wenig. In Rauschen, also Svetlogorsk, kommen drei wesentliche Faktoren zusammen: eine steile Ostseeküste, viel Wald und feiner Sandstrand.
Obwohl Svetlogorsk über eine große Menge an Unterkünften verfügt, die ein Mehrfaches seiner Einwohnerzahl fassen können, wirkt es keinesfalls wie eine organische oder gar überladene Stadt. Das Seebad ist eher eine größere Gartensiedlung, deren Gebäude sich auf weitläufigen Waldgrundstücken verteilen. Grün ist die dominierende Farbe, aus der hie und da die verborgenen Fassaden verwunschener Villen hervorlugen.
Ein Idyll, das leider einen Makel hat – nämlich die offensichtliche Konzentration von Reichtum samt seiner argwöhnischen Einhegung durch hohe Zäune. Wohnt das weniger betuchte Volk in Kaliningrader Wohnblocks ohne Außenputz, bewirtschaftet der russische Geldadel seine teuren Wochenendvillen im lauschigen Svetlogorsk. Auch Russland hat es nicht hinbekommen, die positiven Aspekte des Kommunismus zu bewahren und ein politisches System mit weitgehender sozialer Gleichheit zu etablieren. Ganz im Sinne des globalen neoliberalen Mainstreams und als Folge von Boris Jelzins Privatisierungspolitik zeigt sich das heutige Russland als Land mit einer eklatanten sozialen Kluft.
Dennoch ist Svetlogorsk ein sehr angenehmes Städtchen mit viel Wald und guter Luft. Auch die Seepromenade, die in den unteren Etagen der Steilküste liegt, lädt durchaus zum Verweilen ein. Es gibt auffällig wenig touristischen Nepp, und selbst die in dieser Region unvermeidlichen Verkaufsstände mit Bernsteinartikeln halten sich in engen Grenzen. Allerdings ist jetzt, Mitte Juni, noch Vorsaison. Viele Geschäfte haben noch nicht geöffnet, und in Svetlogorsks Einkaufsmeile werden viele Läden noch für die Hauptsaison vorbereitet.
Apropos einkaufen, das ist in Svetlogorsk nicht unbedingt einfach – zumindest wenn es sich um Lebensmittel handelt. Und Svetlogorsk I, denn die Stadt ist eigentlich zweigeteilt: Svetlogorsk I ist die Hälfte ohne die Villen im Grünen, Svetlogorsk II das eigentliche Seebad. In letzterem gibt es keine herkömmlichen Selbstbedienungs-Supermärkte, sondern Läden mit langen Tresen und Verkaufspersonal, das die Waren auf Wunsch anreicht. Keine gute Sache bei fehlenden Russischkenntnissen. Zum Glück gibt es in Svetlogorsk I einen herkömmlichen Supermarkt, in dem wir uns mit allem Nötigen versorgen können.
Und was tut man so in Svetlogorsk? Man legt sich an den Strand und genießt die Sonne. Genau das machen wir, denn das Wetter ist mehr als einladend. Und da Vorsaison ist, gibt es auch kein Gedränge am Strand. Und so liegen wir in der Sonne, trinken russisches Bier (besonders gut: „Ostmark“ aus Kaliningrad) und lassen es uns gut gehen. Dazu gibt es Knabberstangen und Dosenoliven aus dem Supermarkt. Lecker.
Kurische Nehrung, Russischer Teil
Ausnahmsweise ist das Wetter einmal schlecht. Nicht wirklich, also ohne Regen oder Sturm. Aber es ist dicht bewölkt und ziemlich kühl. Kein Vergleich zum Vortag, als die Sonne bei sehr sommerlichen Temperaturen vom Himmel brannte. Schon erstaunlich, wie schnell sich die Luft im Frühsommer abkühlen kann, wenn Land- und Wassermassen noch untertemperiert sind. Zum Glück konnten wir den gestrigen Sommertag am Strand genießen – zum Radfahren nach Rybatschij genügt auch bewölktes Mängelwetter.
Unsere heutige Route ist denkbar einfach: Erst geht es von Svetlogorsk nach Zelenogradsk, dem zweiten berühmten Seebad an der samländischen Ostseeküste. Von dort dann weiter über die Nehrungsstraße bis Rybatschij, dem ehemaligen Rossitten auf der Kurischen Nehrung.
Das Besondere: Von Svetlogorsk nach Zelenogradsk nehmen wir die Autobahn. In Russland kein Problem, denn es ist nicht verboten, auf dem Randstreifen zu fahren. Und der ist so großzügig bemessen, so dass selbst zwei Radfahrer bequem nebeneinander radeln können. Auch der Verkehr hält sich in engen Grenzen, was diesen Abschnitt recht angenehm macht. Autobahnen können also auch für Radfahrer Vorteile haben.
Kurz vor Zelenogradsk ist dann leider Schluss mit der bequemen Betonpiste. In das ehemalige Seebad Cranz geht es auf einer etwas holprigen Landstraße. Zelenograskd bedeutet soviel wie „Grüne Stadt“, was so gar nicht auf die vielen Appartementhochhäuser passen will. Als Haus-Seeband der Kaliningrader wird hier fleißig gebaut, was der kleinen Stadt jegliche Atmosphäre raubt. Wir widmen der Ortschaft keinen zusätzlichen Aufenthalt, sondern radeln gleich auf den Abzweig zur Nehrungsstraße.
Nach wenigen Kilometern kommt der Kontrollpunkt zum Nationalpark Kurische Nehrung. Autofahrer müssen hier eine Gebühr entrichten, wir dürfen kostenlos die Kurische Nehrung befahren. Es wird häufig behauptet, dass der russische Teil der Nehrung wilder, romantischer und melancholischer wirke, als der litauische. Da ist durchaus etwas dran, denn die Nehrungsstraße windet sich durch einen dichten Mischwald. Weder Haff noch Ostsee sind zu erblicken, nur dichter Wald. Dennoch gibt es in regelmäßigen Abständen Stichwege zum Wasser. An einem davon machen wir einen kleinen Abstecher an die Ostsee, um auf der Steilküste unsere Nasen in die frische Brise zu halten.
In Lesnoj machen wir einen ersten Stopp. Das frühere Sarkau ist der einzige Ort auf der Nehrung, der vom Haff bis an die Ostseeküste reicht. Letztere ist wegen ihres raueren Klimas fast unbesiedelt, alle weiteren Ortschaften liegen am wärmeren und windgeschützten Haff. Weil Lesnoj eine Strandpromenade an der Ostsee zu bieten hat, suchen wir dort nach einem ruhigen Plätzchen. Doch es ist so windig und gemütlich, dass wir uns lieber wieder auf die Räder schwingen.
Weiter geht es über die Nehrungsstraße, die abschnittsweise recht kurvig verläuft. Auch die Vegetation ändert sich; mal umgibt uns der dichte Mischwald, dann wieder lockerer Fichtenwald. Gelegentlich sind in Dünen zu erkennen.
n Rybatschij schließlich machen wir uns erstmal auf die Suche nach einer Unterkunft. Das ehemalige Rossiten hat sich seit früher nur wenig verändert. Hier ist die Dorfstruktur aus ostpreußischer Zeit weitgehend erhalten geblieben. Wir finden sogar noch die alte Schule und die Kirche, beide sogar unbeschädigt.
Wie in Russland wohl üblich, ist auch hier das Hotel nicht einfach zu finden. In diesem Falle hört es auf den Namen Atrimo und ist mit drei Sternen angeblich das beste Haus der Umgebung. Ablesen lässt sich das am stolzen Zimmerpreis von fast 100 Euro pro Nacht. Dennoch scheint man im Atrimo der Sparfuchs umzugehen: ein Hotelschild fehlt und im Bad das Abflussrohr des Waschbeckens. Egal, dann putzen wir uns halt die Zähne unter der Dusche. Davon abgesehen logiert es sich in den Räumen der ehemaligen deutschen Jugendherberge sehr angenehm. Das Kurische Haff liegt kaum einen Steinwurf von unserem Zimmer entfernt. Sein leises Rauschen wiegt uns sanft in den Schlaf.
Bevor es am nächsten Tag weitergeht, schauen wir uns noch Rybatschijs Sehenswürdigkeiten an. Da wäre zum einen die Düne Müllers Höhe, die mit ihren 43 Metern zu den höchsten der Nehrung zählt. Man hat einen schönen Rundweg durch das Naturschutzgebiet angelegt. Leider sind alle Hinweistafeln auf Russisch. Auf der Düne gibt es zwei Aussichtstürme, einen kleinen und einen großem. Letzterer ist eine dünne Stahlkonstruktion mit steiler Außenleiter und eine Herausforderung für die Nerven. Claudi schafft es als einzige von uns beiden bis auf die kleine Aussichtsplattform. Ich passe auf halbem Weg und schaue mir den Turm lieber von unten an. Zum anderen gibt es den Möwenbruch, den größten Süßwassersee der Nehrung. Er ist ein ideales Brutgebiet für alle möglichen Vogelarten. Leider ist sein Wasser durch die Abwässer Rybatschijs von keiner guten Qualität.
Nida zum Verlieben
Der russische Wettergott ist traurig. Es kann wohl nur an unserer Ausreise liegen, dass der Himmel immer noch regnerisch-grau ist und ein kühler Wind stürmt. Doch heute geht es nach Litauen, und damit wieder zurück in die Europäische Union mit ihrer hässlich neoliberalen Wirtschaftspolitik und ihrem eklatanten Demokratiedefizit.
Aus- und Einreise gehen zügig vonstatten. Ehe wir uns versehen rollen wir über litauischen Boden. Ein Land übrigens, das neben Polen zu meinen aktuellen Favoriten zählt. Wohl aus diesem Grunde lichtet sich plötzlich die Bewölkung und macht Platz für die Sonne. Ein wenig später sind wir in Nida, dem alten Nidden. Im Vergleich zur russischen Seite soll es hier geradezu hektisch und trubelig zugehen; ein Hort des baltischen Massentourismus. So zumindest sehen das einige Reiseführer. Sicher ist im Vergleich zur benachbarten Exklave mehr los. Aber trotz aller Beliebtheit und wohl recht passabler Übernachtungszahlen wirkt Nida immer noch wie ein kurisches Fischerdorf. Nur eben, dass es ein paar Restaurants mehr gibt. Größere Hotelbauten sucht man vergebens, dafür wimmelt es von typischen Kurenhäusern aus rot gefärbtem Holz. Es geht also durchaus gemütlich und beschaulich zu in Nida.
Nida begeistert von der ersten Sekunde an. Gut, die nordwestlichen Stadtteile sind nicht ganz so lauschig, wie der Ortskern und die Viertel in Haffnähe. Aber da wohnen eh nur übersättigte Touristen in ihren Appartementhäusern. Wir haben einen Logenplatz bezogen, von dem aus wir eine der angenehmsten Seiten Nidas bestaunden können: Stille und Beschaulichkeit.
Und das, obwohl wir direkt an einer Hauptverkehrsachse der Stadt wohnen – dem (Ostseeküsten-) Radweg R10, der Nida entlang der Haffküste in Nord-Süd-Richtung durchquert. Mit den Rädern sind wir in wenigen Minuten im Zentrum, auch zur Parniddener Düne mit ihrer Sonnenuhr ist es nicht weit. Überhaupt sind wir von der hervorragenden Fahrrad-Infrastruktur begeistert. Es gibt viele gut Radwege, und auch der Autoverkehr hält sich in erträglichen Grenzen. Eine schöne Erfahrung nach der KFZ-verseuchten Kaliningrader Oblast.
Obwohl es in der unmittelbaren Nachbarschaft liegt, schauen wir es uns nicht an, das Thomas Mann Haus. So gut waren seine Bücher dann auch wieder nicht. Uns zieht es dann schon eher zur Parniddener Düne mit ihrer Sonnenuhr und ihrem naturkundlichen Lehrpfad. Mit den Rädern fahren wir bis an ihren Fuß, dann geht es über eine steile Treppe nach oben. Die Aussicht über die weiten Dünenfelder und das Haff ist grandios. Auch einen Parkplatz gibt es hier, für all die fußlahmen Autler.
Zentraler Anlaufpunkt in Nida ist der Supermarkt im Zentrum, gleich neben der gut ausgestatteten Touristeninfo. Hier gibt es alles, was Magen und Leber begehren. Auch hier ist die Auswahl an Bieren gigantisch und stellt die paar Standardmarken, die durchschnittliche Supermärkte in Deutschland führen, in den Schatten. Vom Vodkaregal ganz zu schweigen…
Und wenn wir nicht gerade auf unseren Rädern unterwegs sind, lassen wir es uns auf unserem Balkon gut gehen.
Nach Klaipėda – für fritiertes Brot mit Knoblauch
Von Nida ins Zentrum von Klaipėda sind es 52 Kilometer. Der gesamte Nehrungsteil kann auf guten Radwegen durchquert werden, und das fast ausschließlich fernab der KFZ-Straße. Bis etwa Juodkrante radelt man auf der Haffseite, danach wird zur Ostsee gewechselt. Ein richtiger Genuss, auch gibt es jede Menge zu sehen, wenn man von Nida nach Klaipėda radelt.
Und es wird auch nicht langweilig, so dass man diese Tour gerne mehrfach absolvieren kann. Wir haben es zweimal gemacht – und das vor allem, um in Klaipėda zu Mittag zu essen. Bei unserem Besuch haben wir ein kleines Restaurant in der Innenstadt gefunden, das fritiertes Brot mit Knoblauch im Sortiment hat – lecker und vegan. Seit dem wurde es unser Anlaufpunkt in der Stadt.
Klaipėda ist mit rund 180.000 Einwohnern die drittgrößte Stadt Litauens. Sie erstreckt sich auf etwa 14 Kilometern von Norden nach Süden. Im Gegensatz dazu ist sie aber nur wenige Kilometer breit. Klaipėdas restaurierte Altstadt befindet sich fast schon im nördlichen Randgebiet, wo die Nehrung dem Festland am nächsten ist. In der Altstadt lässt es sich sehr gut aushalten. Hier herrscht nur wenig Verkehr, und in den engen Gässchen ist es recht heimelig. Auffällig ist das Fehlen von Kirchtürmen – sie wurden zur Sowjetzeit samt zugehöriger Kirchen geschliffen. Dem Stadtbild tut das keinen Abbruch.
Außerhalb der Altstadt präsentiert sich Kaipėda allerdings etwas rauer, geschäftiger und hässlicher. Wo sich Industriebetriebe und Plattenbauten abwechseln, bleibt wenig Raum für schöne Ecken.
Klaipėda hat eine wechselvolle Geschichte. Einst nördlichste Stadt des Deutschen Reiches und Zentrum des Memellandes, wurde das frühere Memel 1923 samt Memelland von Litauen besetzt. Erst 1939 wurde es für fünf Jahre noch einmal Teil des Deutschen Reiches. Nach Kriegsende und nun Hafenstadt in der Litauischen SSR erfolgte die Umbenennung in Klaipėda – und damit in den ursprünglichen kurischen Namen.
Auf den Spuren von Herrmann Sudermann: Šilutė (Heydekrug)
Auch das alte Heydekrug war eine wichtige Stadt im Memelland. Zwar nicht so groß wie das 50 Kilometer nördlich gelegene Memel, bildete die beschauliche Kleinstadt das Regionalzentrum des Memeldeltas.
Das Memelland befand sich schon lange im Spannungsfeld zwischen der deutschen, pruzzischen und litauischen Kultur, was das Alltagsleben dieser Region maßgeblich prägte. Wer sich für das Leben der einfachen Menschen im Memelland interessiert, kommt um den Schriftsteller Herrmann Sudermann nicht herum. Die Figuren seiner Romane waren oft echten Menschen der damaligen Zeit nachempfunden, wenn nicht sogar authentische Beschreibungen ausgewählter Zeitgenossen.
In seiner Litauischen Geschichte Jons und Erdme beschreibt er das mühselige Leben eines jungen Paares, das sich in der Kolonie Bismarck ein Häuschen baut und eine Familie gründet. Die Kolonie befand sich zu Sudermanns Zeiten ein wenig außerhalb Heydekrugs inmitten ausgedehnter Moore. Von der Kolonie selbst ist nichts mehr zu sehen, aber das Haus des beschriebenen Moorvogtes ist noch bewohnt. Alles kleine Details, die um so interessanter sind, weil Claudia und ich gemeinsam den Sudermanns Roman lesen. So erfahren wir abends die Geschichte und können am nächsten Tag den Orten nachspüren, an denen sie spielt.
Nach Šilute fahren wir nicht mit unseren Rädern, sondern mit dem Boot. Die Fahrt über das Haff erspart uns den lästigen Umweg über Klaipeda, das sich leider nicht umradeln lässt – genauso wenig wie die autobahnähnliche 141 bis etwa 20 Kilometer vor der Stadt. In Nida gibt es einige Anbieter für solche Überfahrten. Unserer ist der Bruder unseres Pensionswirtes. Er bringt uns nicht nur zügig ans litauische Festland, sondern erklärt uns noch so manch Wissenswertes zu Haff und Memeldelta.
Über den Atmata-Strom – den nördlichen Arm des Deltas – verlassen wir das Haff und fahren durch das Festland. Über das Flüsschen Šyŝa erreichen wir schließlich Šilutė, wo wir im Hotel Deims absteigen.
Vorher dürfen wir uns aber noch die evangelische Kirche anschauen und werden dabei von einer christlichen Missionarin begleitet, die uns die Einzelheiten erklärt (war Bestandteil der Stadtbesichtigung der Bootstour). Die gute Frau wusste zwar viel zur Kirche zu erzählen, war aber gar nicht gut auf „Zigeuner“ zu sprechen, die vor allem im Winter lieber Sozialleistungen kassierten, als zu arbeiten. Auch waberte stets ein revanchistischer Ton der Marke „das ist ja eigentlich alles deutsch hier“ mit. Christentum, Rechtsradikalismus und Faschismus haben schon immer gut zusammen gepasst.
Michael Molls Radreiseführer „Baltikum per Rad“ (Verlag Wolfgang Kettler) meint zu Šilutė, dass es lediglich die evangelische Kirche zu sehen gäbe. Weit gefehlt, die Stadt hat so einiges mehr zu bieten.
Da wäre der ehemalige Marktplatz, der mit einem Ensemble von Originalhäusern einen Eindruck vom früheren Heydekrug vermittelt. An ihm vorbei fließt das Flüsschen Šyŝa (Schieß-Fluss), die alte Brücke darüber ist auch noch erhalten. Ebenso das alte Feuerwehrhaus (noch heute in Betrieb) sowie das Amtsgericht. Insgesamt ist Šilutė ein nettes und beschauliches Kleinstädtchen, das inmitten einer idyllischen Landschaft liegt.
Rusnė und die Memelinsel
Das Örtchen Rusnė (Russ) liegt exponiert. Hier teilt sich die Memel (Nemunas) in die beiden Mündungsarme Atmata (Atmath) und Skirvytė (Skirwieth) auf. Letzterer umfließt Rusnė im Südosten und bildet gleichzeitig die Grenze zur Kaliningradska′ja Oblast. Zum Haff hin breitet sich die Memelinsel aus, die von den beiden Memelarmen gebildet wird. Alles Land, das regelmäßig von Überschwemmungen heimgesucht wird.
Mit dem Fahrrad sind es knapp neun Kilometer bis Rusnė. Der Weg dorthin führt vorbei am Moorgebiet Rupkalwen (Žalgiriai-Rupkalviai) in denen früher die Moorkolonie Bismarck lag – dort hatten sich Jons und Erdme aus Sudermanns Roman ein feuchtes Grundstück gekauft und unter Mühen ein Häuschen gebaut. Kurz davor, am Ende der Brücke über die Flutwiesen, steht ein altes Gehöft. Zu Sudermanns Zeiten war es das Haus des Moorvogts, bei dem die beiden Protagonisten vorsprechen mussten.
Das Örtchen Rusnė (Russ) liegt exponiert. Hier teilt sich die Memel (Nemunas) in die beiden Mündungsarme Atmata und Skirvytė auf. Letzterer umfließt Rusnė im Südosten und bildet gleichzeitig die Grenze zur Kaliningradska′ja Oblast. Zum Haff hin breitet sich die Memelinsel aus, die von den beiden Memelarmen gebildet wird. Alles Land, das regelmäßig von Überschwemmungen heimgesucht wird.
In das Rupkalwer Moorgebiet führt außerdem eine Art Naturlehrpfad, dessen Beschilderung wohl einem der letzten Hochwasser zum Opfer gefallen ist. Wir dringen vor bis zur Sudermann-Eiche, müssen für den Rückweg allerdings Regenhose und -jacke anziehen. Die Mücken sind hier so zahlreich und stechlustig, wie im nordschwedischen Muddus-Nationalpark. Es gibt sogar noch erhaltene Reste der Moorkolonie Bismarck. Leider können wir sie wegen der fehlenden Beschilderung nicht finden . und ein langes Suchen vereiteln uns die Mücken.
Weiter geht es bis zur Memelbrücke nach Rusnė. Links fällt unser Blick auf den Anfang der Skirwieth, auf der gegenüberliegenden Uferseite ist schon Russland. In Rusnė halten wir uns rechts und nehmen die asphaltierte Straße nach Uostadvaris. Die Sonne scheint, es gibt kaum Verkehr (was sollte man auch hier?), links breiten sich weite Wiesen aus und rechts schimmert ab und zu der Atmata durch die Bäume.
In Uostadvaris (Kuwertshof) scheint man am Ende der Welt angekommen zu sein. Das Dorf am Südende des Atmata beherbergt ein altes Schöpfwerk sowie einen Leuchtturm. Ansonsten liegt eine dösige Ruhe über dem Örtchen. Wir radeln weiter in Richtung Pakalnė (Pokallna). Hier ist Straße unbefestigt, lässt sich aber gut beradeln. Es geht durch Felder, dann durch Wiesen und Weideland. Auch in Pokallna ist nicht viel los. Dafür liegt das Dorf idyllisch am gleichnamigen Fluss. Nur ein Bauer ist aktiv und macht mit seinem Traktor reichlich Lärm.
Zurück in Rusnė machen wir noch eine kleine Ortsbesichtigung. Viel zu sehen gibt es nicht, nur die ehemalige Kirche mit einem einsamen Grab davor fällt besonders ins Auge. Danach radeln wir die Skirwieth ein paar Kilometer entlang und schauen auf die russische Seite – erkennbar an den entsprechenden Grenzpfählen.
Den Tag darauf wollen wir es dann wirklich wissen. Wie gehabt radeln wir in Richtung Rusnė, biegen aber kurz vorher nach links ab. Die Schotterstraße folgt irgendwann der Memel und führt durch die entlegensten Gegenden, die das dicht besiedelte Mitteleuropa zu bieten hat. Im Grenzland zwischen Litauen und Russland dominiert die unberührte Natur, Menschen und ihre zivilisatorischen Errungenschaften sind hier weitgehend unbekannt. Trotzdem ist natürlich auch hier das ein oder andere Auto zu sehen – aber in fast stündlichen Abständen.
So grandios die natürlichen Landschaften hier sind, so sehr freuen sich auch Stechinsekten auf unsere Anwesenheit. Einige von ihnen verfolgen uns auch bei hohem Tempo und versuchen zu stechen, was uns das Naturerlebnis ein wenig verleidet. Ursprünglich wollten wir bis Sovetsk (Tilsit) fahren, drehen aber schon auf halber Strecke um. Der Stechmücken wegen.
Raus aus Ostpreußen: Šilutė – Klaipėda – Palanga
Heute verlassen wir das alte Ostpreussen und radeln nach Palanga. Litauens berühmtestes Seebad befindet sich etwa zwölf Kilometer nördlich von Nemirseta (Nimmersatt), wo sich früher die Grenze zu Russland befand. Nimmersatt war damit die nördlichste Ortschaft des Deutschen Reichs und lag mit 55° 52′ nördlicher Breite einen guten Breitengrad nördlicher als Flensburg.
Doch bevor wir dorthin kommen, müssen wir erst einmal Klaipėda erreichen – womit uns keine allzu leichte Aufgabe bevorsteht. Trotzdem fängt die Etappe gut an. Über eine frisch asphaltierte Straße geht es vorbei an ausgedehnten Mooren und durch dichte Wälder in das hübsche Städtchen Kintai. Von dort an verlassen wir die bequeme Straße und rollen über einen unschönen Schotterweg durch dichte Wäler entlang der Haffküste. Beschilderungen sind hier sehr rar, was uns kilometerlange Sorgen bereitet. Auf andere Gedanken bringen wollen uns dagegen ein paar Pferdebremsen.
In Dreverna haben wir dann endlich wieder Asphalt unter den Laufrädern. Am Ortsgang machen wir einen kleinen Stopp König-Wilhelm-Kanal. Er wurde 1873 fertiggestellt und verband den Atmata und Minge mit dem Memeler Tief. Idee war, das gefährliche Windenburger Eck am Haff für die Schifffahrt zu vermeiden. Doch viel Verkehr herrschte nie auf dem Kanal. Heute ist er ein stehendes Gewässer.
Nach Priekule ist dann Schluss mit Lustig. Mitten im Ort nimmt der Verkehr nach Klaipėda sprunghaft zu. Für anderthalb Kilometer können wir uns noch auf einem Radweg verstecken, dann müssen wir rauf auf die verkehrsreiche Straße 141. In Dituva nimmt sie autobahnähnliche Ausmaße an. Dadurch erhält sie aber auch zwei Fahrspuren in jede Richtung sowie einen kleinen Seitenstreifen, was das Radeln nicht ganz so stressig macht.
Zwanzig Minuten später taucht am Horizont schließlich Klaipėda auf. Oder vielmehr eine riesige Ansammlung trister Betonklötze, umgeben von Fabrikhallen und Industriebetrieben. Genau dorthin biegen wir ab und befinden uns wieder auf dem Europaradweg R10. Der ist auch noch einen Kilometer lang beschildert, bevor wir irgendwo in der litauischen Hafenstadt stranden.
Sprichwörtlich planlos, denn einen Stadtplan haben wir nicht. Brauchen wir auch nicht, die Orientierung ist nicht allzu schwer. Wir folgen einer der Hauptstraßen in nördlicher Richtung und können damit nicht viel falsch machen. Die Straßenverhältnisse sind allerdings weniger spaßig. Es gibt sogar in den Radgebieten häufig Radwege. Ihr Zustand lässt sich bestens als „improvisiert“ beschreiben.
Endlich kommen die Hochhäuser des Zentrums in Sicht. In der Altstadt machen wir eine Rast und essen in unserem Stammlokal noch eine Portion fritiertes Brost mit Knoblauch. Dann radeln wir weiter nach Norden und treffen dabei auch wieder auf die Beschilderung des R10.
b hier beginnt dann das Radlerparadies in Form eines wunderschönen Radweges, der entlang der Ostseeküste bis nach Palanga führt – fern ab von jeglichem Autoverkehr, nur durch Wälder und Küstenwiesen. Herrlich.
In Palanga beziehen wir unser Hotel und verleben anschließend drei schöne Tage in Litauens wichtigstem Seebad. Besonders gerne bummeln wir über die J. Basanaviciaus Gatve, Palangas Fußgängerpromenade. Hier reiht sich ein Lokal an das andere, was die Auswahl selbst für uns Veganer so sehr erhöht, dass wir auch kulinarisch auf unsere Kosten kommen. Und das Beste: Vodka wird nicht in deutschen Miniportionen zu 2 cl angeboten, sondern los geht es erst ab 5 cl. Als ich gefragt werde, ob ich nicht auch 10 cl trinken möchte, sage ich gerne ja. Für umgerechnet drei Euro auch ein preiswertes Vergnügen.
Fazit: Palanga ist zumindest in der Nebensaison eine sehenswerte, angenehme und unterhaltsame Stadt, in der man viel Spaß haben kann. Weniger sehenswert ist dagegen das 12 Kilometer nördliche gelegene Šventoji, das recht gesichtlos und spröde daherkommt. Eine Kuriosität: Der R10 wird hier allen Ernstes über eine sehr enge Hängebrücke sowie durch unbefahrbare Sandwege geführt. Spricht auch nicht gerade für das Kaff.
Die letzte Etappe: Palanga (LT) – Liepāja (LV) – Fähre nach Lübeck
Weil unsere Fähre nach Lübeck in Liepāja ablegt, müssen wir nach Lettland. Keine Frage, ginge es nach uns, würden wir noch mindestens bis nach St. Petersburg radeln. Ohne mit der Wimper zu zucken. Doch die Zwänge des bürgerlichen Lebens in einer kapitalistischen und auf Lohnarbeit aufgebauten Gesellschaft machen eine Heimkehr nötig. Leider, leider.
Also packen wir ein letztes Mal unsere Sachen und machen uns auf den Weg ins nördliche Nachbarland. Und das bei besten Bedingungen – die Sonne scheint und der Wind bläst von hinten.
Die Etappe ist denkbar einfach: Mangels Alternativen beradeln wir einfach die Fernstraße zwischen beiden Städten. In Litauen hört sie auf den Namen A13, in Lettland auf A11. Mit dem deutschen Autobahn-A hat das aber nichts zu tun, beide Straßen sind bestenfalls mittlere Landstraßen. Auch der Verkehr hält sich in sehr erträglichen Grenzen, so dass wir über längere Strecken nebeneinander fahren können.
An der lettischen Grenze ändert sich plötzlich der Fahrbahnbelag. Nun ist es vorbei mit dem glatten Asphalt. Es folgt der für lettische Straßen typische Flickenteppich aus groben Ausbesserungen, Schlaglöchern und anderen Unebenheiten. Kurzum, es holtert und poltert, rüttelt und wackelt. Trotzdem, auf der A11 ist kaum was los, und dazu scheint die Sonne.
Der Zustand der A11 liefert in gewisser Weise einen Vorgeschmack auf Liepāja. Denn die drittgrößte Stadt Lettlands überrascht uns mit einem erstaunlich ärmlichen Erscheinungsbild. Selbst in unmittelbarer Nähe zur Innenstadt sind viele Straßen nicht asphaltiert. Und die Bausubstanz präsentiert Zerfall in unterschiedlichsten Varianten. Während die kleine Innenstadt selbst durchaus passabel aussieht, geht es dahinter wieder rau und hässlich zu. In der Nähe des Hafens dominieren schließlich bröckelnde Wohnblocks der Marke DepriHeim. Im Unterschied zum hochglanzpolierten Riga ist Liepāja eher die lettische Lebensrealität.
Nun müssen wir Zeit totschlagen. Unsere Fähre legt erst um vier Uhr früh ab, auf′s Schiff können wir ab 1.30 Uhr. Was also tun in einer Stadt wie Liepāja? Erstmal einchecken am Hafen, ein leckeres Bier in der Abendsonne genießen, dann zurück ins Zentrum. Dort machen wir uns auf die Suche nach einem Restaurant. Unser Vorhaben: stundenlanges Bauch-Vollschlagen. Wir werden fündig, können sogar draußen an einem Stadtplatz sitzen. Aber auch hier zeigt sich die Armut Lettlands. Die Menschen könnten ihrer Kleidung, ihrer Frisur und ihrem Habitus nach gut nach Berlin-Marzahn passen. Hier ist putzt sich niemand mehr heraus.
Um 23 Uhr müssen wir gehen, das Restaurant macht zu. Die letzten Stunden dösen wir noch im Wartesaal des Fährterminals vor uns hin, dann geht es rauf aufs Schiff. Es folgen anderthalb Tage mit bester Ostseesicht – unsere Außenkabine hat ein riesiges Außenfenster. Und wenn man von den Kojen aus nach draußen gucken kann, braucht man die Kabine nur zu verlassen, um im Dutyfreeshop einzukaufen. Welch ein Luxus.